physioscience 2017; 13(04)
DOI: 10.1055/s-0035-1567235
Buchbesprechung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der physiotherapeutische Direktzugang in Deutschland – Internationaler Vergleich ausbildungsinhaltlicher und struktureller Bedingungen

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. Dezember 2017 (online)

In ihrem Buch vergleicht Sina J. Weeber jeweils 2 europäische (Finnland und Schweden) mit 2 außereuropäischen (Australien und Neuseeland) WCPT-Mitgliedsländern, in denen Physiotherapeuten im Direktzugang tätig sind. Die Autorin untersuchte in ihrer Master-Arbeit an der EufH med in Rostock, ob ein Direktzugang in Deutschland theoretisch möglich wäre, mit der Idee dahinter, dass die Befähigung zum Direktzugang vor allem von der Ausbildung der Therapeuten abhängt.

Zusammengefasst kommt Weeber zu dem Schluss, dass alle untersuchten Länder vollakademisiert sind und Physiotherapeuten sich mit dem BSc in Physiotherapie für den Direktzugang qualifizieren. Die Studieninhalte werden nicht durch eine einheitliche gesetzliche Regelung der Länder festgelegt, sondern richten sich nach einem von den Physiotherapieverbänden der einzelnen Länder formulierten Ethikkodex. In allen untersuchten Ländern gibt es einen Physiotherapieverband, in dem alle Physiotherapeuten Mitglied sein müssen, um klinisch tätig sein zu dürfen.

Im Vergleich der Ausbildungs- bzw. Studienfächer zeigt sich, dass in der deutschen Fachschulausbildung international nicht vermittelte Fächer unterrichtet werden (z. B. Hygiene, Elektrotherapie, Hydrotherapie, Massage). Die relevantesten Fächer der internationalen Studiengänge „Evidenzbasierte Forschung und Praxis“, „Forschungsmethoden“ und „Diagnose“ kommen dagegen in Deutschland quasi nicht vor. Der Vergleich mit den in Deutschland angebotenen additiven und grundständigen Studiengängen verdeutlicht jedoch, dass Physiotherapeuten mit einem in Deutschland erworbenen BSc vergleichbare Studienfächer absolvieren wie die internationalen BSc-Kollegen und mit vergleichbaren Kompetenzen die Universitäten bzw. Fachhochschulen verlassen.

Laut Weeber sind erst ca. 2,3 % der deutschen Physiotherapeuten akademisiert, während z. B. in Schweden etwa der gleiche Anteil der Physiotherapeuten bereits promoviert ist (1,75 %). Interessanterweise sind in den untersuchten Ländern im Mittel 20 Jahre zwischen der Akademisierung und der Zulassung zum Direktzugang vergangen. In Deutschland gab es vor 14 Jahren der erste BSc-Studiengang, allerdings wurde in den Vergleichsländern nirgendwo eine Fachschulausbildung parallel zu den Studiengängen weiterverfolgt.

In ihrer Diskussion betont die Autorin, dass in Deutschland aufgrund der uneinheitlichen Ausbildungsinhalte eine Zusatzausbildung in Form eines Fortbildungskurses sinnvoll sein könnte. In diesem könnten Physiotherapeuten zusätzliche Kenntnisse der Differenzialdiagnose und physiotherapeutische Screening-Verfahren erlernen und so gezielt auf ihre Tätigkeit im Erstkontakt vorbereitet werden. Weeber schlägt vor, eine Abschlussprüfung als Zulassungsvoraussetzung für den Erstkontakt zu implementieren. Ein ähnliches Modell wird z. B. in den Niederlanden und in einigen Staaten der USA praktiziert.

Das sehr interessant zu lesende Buch bietet jede Menge Argumente, warum es sich weiterhin lohnt, den Direktzugang in Deutschland voranzutreiben. Hervorgehoben wird vor allem die Kostenreduktion durch kürzere Behandlungszeiten, weniger Arztbesuche und eine schnellere Rückkehr von Patienten an den Arbeitsplatz. Durch das Professionalisierungsbestreben innerhalb der Physiotherapie und die zunehmende, wenn auch langsam voranschreitende Akademisierung, sind wir auf dem besten Weg, uns zumindest strukturell den Gegebenheiten in den Ländern mit Direktzugang anzupassen. Es tut gut zu lesen, dass die Studiengänge in Deutschland bereits ähnliche Inhalte aufweisen und dem internationalen Vergleich standhalten können.

Was Weeber wenig hervorhebt bzw. nur in der Diskussion kurz aufgreift, ist, dass es in Deutschland weit mehr Hinderungsgründe gibt als rein strukturelle ausbildungsbedingte Gegebenheiten. Insbesondere haben wir keinen Physiotherapieverband, in dem alle Physiotherapeuten Mitglied sind und der einen entsprechenden Ethikkodex für das physiotherapeutische Handeln formulieren könnte, an den sich alle Physiotherapeuten halten müssten. Weiterhin erscheinen momentan die erforderlichen Gesetzesänderungen eine größere Hürde darzustellen als die Reform der Ausbildungsstrukturen. Wie begegnet man beispielsweise zielführend dem Widerstand der Ärzteschaft, die in Deutschland eine weit stärkere Lobby als im internationalen Vergleich besitzt. Und wie finden wir mehr Fürsprecher in der Politik? Dies könnten vielleicht Inhalte für folgende Master-Arbeiten sein.

Prof. Dr. Kerstin Lüdtke, Lübeck