physioscience 2017; 13(04): 153-154
DOI: 10.1055/s-0035-1567232
Gasteditorial
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Leitlinien und die Profession Physiotherapie

C. Kopkow
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Publication Date:
08 December 2017 (online)

Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen. Sie sollen in der Gesundheitsbranche tätige Personen dabei unterstützen, Entscheidungen bezüglich Diagnose, Therapie oder verwandten klinischen Sachverhalten zu treffen [12]. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) – beide maßgebend in der Entwicklung von Leitlinien in Deutschland – definieren Leitlinien als: „[…] systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen“ [1]. Aus physiotherapeutischer Sicht lässt diese Definition aufhorchen, findet doch die Profession Physiotherapie – wie auch weitere an der Patientenversorgung teilnehmende Professionen – keine Erwähnung.

Die Zusammensetzung einer Leitliniengruppe kann maßgeblich zu den in Leitlinien formulierten Empfehlungen beitragen. Das folgende fiktive und vielleicht auch plakative Beispiel veranschaulicht dieses Problem: Sind von 15 am Konsensverfahren beteiligten Personen 14 einer Meinung und nur eine einzige hat eine gegenteilige Meinung, besitzt die Meinung dieser einzelnen Person relativ wenig Gewicht. Unter anderem auch vor diesem Hintergrund muss diskutiert werden, wie viel Einfluss die Profession Physiotherapie bei der Leitlinienerstellung hatte, hat und haben soll.

Bei diversen Leitlinienvorhaben waren bzw. sind Vertreter der Profession Physiotherapie involviert und die Profession Physiotherapie wird als Adressat in Leitlinien genannt, z. B. in der 2. Auflage der Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz [4]. Zu diskutieren bleibt jedoch, wie viele Vertreter der Profession Physiotherapie beteiligt sein sollten. Unbestreitbar ist, dass die Physiotherapie einen wesentlichen Beitrag zum Behandlungserfolg in der Prävention, Therapie und Rehabilitation leistet.

Die Profession Physiotherapie hat in den letzten Jahren zunehmend Wissen generiert [14], welches sich auch in der steigenden Zahl wissenschaftlicher Arbeiten in der physiotherapeutischen Datenbank PEDro widerspiegelt [8]. Die Royal Dutch Society for Physical Therapy (KNGF), aber auch die American Physical Therapy Association (APTA) haben als physiotherapeutische Gesellschaften bereits verschiedene Leitlinien erstellt und publiziert. Braucht es nun also auch für Deutschland geltende physiotherapeutische Leitlinien oder erscheint es nicht vielmehr erfolgsversprechend, als Profession Physiotherapie noch stärker als bisher an der Entwicklung von Leitlinienvorhaben anderer Fachgesellschaften zu partizipieren? Diese Frage lässt sich sicher an dieser Stelle nicht klären und mag unterschiedlich bewertet werden. Wichtig ist jedoch, dass es diesbezüglich einen öffentlichen und ergebnisoffenen Diskurs gibt.

Physiotherapeutische Leitlinien können dabei helfen, die Qualität der Versorgung zu verbessern, da sie Behandlungsstandards formulieren [2]. Die Entwicklung physiotherapeutischer Leitlinien – wenngleich Ausdruck einer zunehmenden Akademisierung und Professionalisierung der Profession Physiotherapie – sollten dabei nicht das langfristige Ziel sein. Dies erscheint vor dem Hintergrund einer interprofessionellen Versorgung von Patienten nicht plausibel.

Im Zuge der nationalen (wie auch internationalen) Diskussion eines direkten Zugangs zu physiotherapeutischen Behandlungen ohne vorherige Arztkonsultation [3], wie er in verschiedenen Ländern bereits praktiziert wird [5] [6], ist die kritische Auseinandersetzung mit einer evidenzbasierten und leitliniengerechten Versorgung aktueller denn je. Um Entscheidungen über Änderungen des Versorgungszugangs und damit assoziierter Versorgungswege treffen zu können, bedarf es jedoch einer belastbaren Datenbasis auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen [9]. Auch fehlen dringend benötigte Anforderungen an Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zur Dokumentation und Evaluation patientenrelevanten Nutzens [9] [10]. Diese Anforderungen sollten idealerweise auch in Leitlinien formuliert werden.

Die 2016 gegründete Deutsche Gesellschaft für Physiotherapiewissenschaft (DGPTW) e. V., welche sich als unabhängige wissenschaftliche Fachgesellschaft versteht, hat laut Satzung unter anderem das Mitwirken an der Entwicklung/Erstellung von Leitlinien zum Ziel und versteht sich als Ansprechpartner für die Profession Physiotherapie betreffende wissenschaftliche Fragestellungen. Die DGPTW ist bereits an der Erstellung einer AWMF-Leitlinie zur Indikation beim künstlichen Hüftgelenkersatz, einer Initiative der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik (DGE‐AE) involviert.

Gleichzeitig verfolgt die DGPTW jedoch auch das Ziel, als wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft in der AWMF aufgenommen zu werden. Wesentliche Schritte zur Erfüllung der Aufnahmebedingungen bei der AWMF wurden bereits vorgenommen, wie die Veranstaltung wissenschaftlicher Tagungen (in 2017 das Forschungssymposium Physiotherapie in Bochum gemeinsam mit der Hochschule für Gesundheit und durch ebendiese initiiert und in 2018 gemeinsam mit der Hochschule Osnabrück in Osnabrück) sowie die (Mit-) Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift als Organ der Gesellschaft (Vorstandsmitglieder der DGPTW sind im Herausgeberteam der physioscience). Nach Erfüllung weiterer Bedingungen und erfolgreicher Aufnahme bei der AWMF kann die DGPTW als wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft federführend AWMF-Leitlinien erstellen.

Die Profession Physiotherapie in Deutschland sollte selbstbewusst auftreten und sich bei der Erstellung von Leitlinien aktiv einbringen. Es braucht keine physiotherapeutischen Leitlinien, um die Professionalisierung voranzubringen, diese schreitet ohnehin fort. Auch braucht nicht jede Profession eigene Leitlinien, sondern alle an der Versorgung von Patienten mit einer bestimmten Erkrankung involvierten Professionen benötigen eine gemeinsame Leitlinie. Es geht um die Verbesserung der Versorgung von Patienten; hierzu ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der physiotherapeutischen Forschung notwendig, um die Forschungsergebnisse gleichberechtigt mit anderen medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften im Rahmen der Entwicklung von Leitlinien diskutieren zu können.

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Prof. Dr. Christian Kopkow
 
  • Literatur

  • 1 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin. Leitlinien Glossar von AWMF und ÄZQ: Leitlinien. 2017 www.leitlinien.de/leitlinien-grundlagen/glossar (30.08.2017)
  • 2 Austin TM, Richter RR, Sebelski CA. Introduction to the GRADE Approach for Guideline Development: Considerations for Physical Therapist Practice. Phys Ther 2014; 94: 1652-1659
  • 3 Brasch M, Räbiger J. Wie Patienten vom Direktzugang zur Physiotherapie profitieren (könnten). Public Health Forum 2011; 19: 23.e1-23.e3
  • 4 Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Nicht-spezifischer Kreuzschmerz. 2017 2. Aufl. www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz (30.08.2017)
  • 5 Bury TJ, Stokes EK. A global view of direct access and patient self-referral to physical therapy: implications for the profession. Phys Ther 2013; 93: 449-459
  • 6 Bury TJ, Stokes EK. Direct access and patient/client self-referral to physiotherapy: a review of contemporary practice within the European Union. Physiotherapy 2013; 99: 285-291
  • 7 Grosch M. Mehr Autonomie in der Physiotherapie. 2015 physiotherapeuten.de/mehr-autonomie-in-der-physiotherapie/#.Wcy_-Wi0NPY (30.08.2017)
  • 8 Kamper SJ, Moseley AM, Herbert RD. et al. 15 years of tracking physiotherapy evidence on PEDro, where are we now?. Br Journal Sports Med 2015; 49: 907-909
  • 9 Kopkow C, Lange T, Schmitt J. et al. [Utilization of Physical Therapy Services in Germany from 2004 until 2014: Analysis of Statutory Health Insurance Data]. [Article in German]. Gesundheitswesen 2017; 79: 153-160
  • 10 Kopkow C, Lange T, Schmitt J. et al. Versorgungsforschung in der Physiotherapie: systematisch aufbauen und synergetisch (weiter)entwickeln. Gesundheitswesen 2017; 79: 162-163
  • 11 Middleton K. Give patients direct access to physiotherapy. BMJ 2016; 352: h6844
  • 12 National Center for Biotechnology Information. Practice Guidelines as Topic. 2017 www.ncbi.nlm.nih.gov/mesh/68017410 (30.08.2017)
  • 13 Räbiger J. Ein Blick auf den Produktionsprozess: Mehr Effizienz durch neue Aufgabenverteilung im Gesundheitssystem? Beispiele aus der Physiotherapie. Public Health Forum 2013; 21: 15.e1-15.e3
  • 14 Van der Wees PJ, Moore AP, Powers CM. et al. Development of Clinical Guidelines in Physical Therapy: Perspective for International Collaboration. Phys Ther 2011; 91: 1551-1563