physioscience 2017; 13(01): 43-44
DOI: 10.1055/s-0035-1567164
Veranstaltungsberichte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

4. Europäischer Kongress der WCPT in Liverpool am 11./12.11.2016

N. Kern
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. März 2017 (online)

Der 4. Europäische Kongress der World Confederation for Physical Therapy (WCPT) in Liverpool wurde von der Chartered Society of Physiotherapists (Verband der Physiotherapeuten Großbritanniens) organisiert. Der Kongress findet alle 2 Jahre statt. Nach Portugal, Schweden und Österreich wird in 2 Jahren Irland Gastgeberland sein.

Hauptthema in Liverpool waren Fortschritte sowie Wert und Wirkung der Physiotherapie. Viele Punkte wurden angesprochen: neben Ausbildung und Therapie im digitalen Zeitalter auch Themen wie Marketingstrategien, Politik, Wissenschaft und das Gesundheitssystem unter sich zurzeit deutlich verändernden Bedürfnissen der Bevölkerung. 1200 Therapeuten aus über 50 Ländern waren gekommen, nicht nur um Vorträge zu hören und Industrieangebote kennenzulernen, sondern auch, um an den vielen Diskussionsrunden und Meetings zu speziellen Themen teilzunehmen. Es gab über 100 Vorträge, 110 Aussteller und 340 Poster ([Abb. 1]). Die 3 besten und prämierten Poster zeigten alle eine sehr gut strukturierte Aufarbeitung und Darstellung der wissenschaftlichen Daten, passend zum Kongressthema, mithilfe fundierter wissenschaftlicher Arbeit die hervorragenden Möglichkeiten unseres Berufes aufzuzeigen.

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Abb. 1 Die Autorin vor ihrer Poster-Präsentation.

Die amtierende Präsidentin des WCPT, Dr. Emma Stokes aus Irland, sprach eindringlich über die Wichtigkeit der internationalen professionellen Kooperation, gerade in unsicheren Zeiten: „Gemeinsam sind wir besser,“ und „Stärke durch Vielfalt“.

Kari Bø, Leiterin der Norwegischen Schule von Sportwissenschaften, stellte Therapiekonzepte infrage, die trotz fehlender Evidenz intensiv beworben und angeboten werden. Physiotherapie brauche mehr durch Kohorten-, Fall- und Querschnittsstudien gewonnene Basiserkenntnisse. In einem 2. Schritt könne man mit randomisierten kontrollierten Studien (RCT) Therapieansätze evaluieren. Dabei sollte der Fokus auf der Prüfung der Reliabilität von Messinstrumenten liegen, auf Zustandsveränderungen durch die spezielle Therapie und mit welchen zugrundeliegenden Mechanismen sich diese erklären. Interne Validität sei wichtig, um Effekte auf die therapeutische Intervention und nicht auf konfundierende Faktoren zurückführen zu können. Die Effektivität bei verblindet durchgeführten RCT sei immer niedriger als die Erfahrungen aus dem therapeutischen Alltag. Praktische Arbeit werde durch viele Faktoren beeinflusst, die bei wissenschaftlichen Untersuchungen wegfallen, unter anderem das Auftreten sowie die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Therapeuten, Gesundheitssystem, Marketing, Wirtschaftlichkeit und die spezifische Wettbewerbssituation.

Michael Brennan, CEO der kanadischen Physiotherapievereinigung (Gesundheitsmanager und Ökonom), betonte, Physiotherapeuten sollten ökonomische Zusammenhänge und Entscheidungen zumindest verstehen können, neben der exzellenten Arbeit, die sie bereits offerierten. Das Ende seiner Rede war sehr emotional: Physiotherapeuten seien immer auch Hoffnungsträger, weil eine wichtige Basis ihres Berufes die uneigennützige Liebe sei.

Nach diesen 3 Keynote-Sprechern bestand wie immer die Qual der Wahl, welche Referatstitel der eigenen Arbeit scheinbar am nächsten kommen oder welche neuen Aspekte man gerne hören wollte.

Die Themen waren vielfältig, von Tests bei Knieproblemen, Behandlungsansätze für Schulterschmerzen bei Schwimmern oder bei Blasenschwäche, psychosoziale Aspekte bei Rückenschmerzen, Amputationsmanagement, die Anwendung von TENS bei peripheren Neuropathien, guter Schlaf als Unterstützung des Therapieerfolgs, eine internationale Vergleichsstudie zur Schlaganfallversorgung, die Behandlung von muskuloskeletalen Problemen bei Erwachsenen mit Zerebralparese oder Claudicatio intermittens, Messskalen für die Angst vor Stürzen bei Patienten mit Multipler Sklerose, die Bedeutung sozialer Medien als Unterstützung für den Therapieerfolg bis hin zum Qualitätsmanagement bei der Ausbildung junger Kollegen.

Die Menge an zur Erhaltung der Gesundheit empfohlener physischer Aktivität wurde ebenfalls thematisiert. Leichte Aktivität hat laut einer vorgestellten Studie keinerlei Effekt, es muss moderat oder anstrengend sein, um die Gefahr muskuloskeletaler Schmerzen zu reduzieren. Vor technischen Angeboten zur Messung der individuellen Leistung mit Empfehlung von Scheinexperten wurde dagegen gewarnt.

In Großbritannien gibt es seit einiger Zeit virtuelle Frakturkliniken. Patienten mit einfachen und stabilen Frakturen werden nach der Erstversorgung via Internet begleitet, d. h. Kontrollen, Übungsangebot und Coaching geschieht online mit speziell zusammengesetzten Teams. Das spart Ressourcen und reduziert Wartezeiten für diejenigen Personen, die Operationen benötigen. Die entlassenen Patienten können die Videos wiederholt anschauen und gegebenenfalls gezielt Fragen dazu stellen oder mit ihrem Hausarzt besprechen.

Interessant war ein Themenkomplex über die Gestaltung motivierender Interviews, die anstelle reiner Informationsvermittlung die intrinsische Motivation der Patienten erhöhen sollen, um damit langanhaltende Verhaltensänderungen bei Patienten zu bewirken.

Die Gesundheit von Immigranten, kulturelle Unterschiede innerhalb Europas und angemessene gleichwertige statt gleicher Betreuung waren Themen, die aktuelle Bedürfnisse auf dem Gesundheitssektor widerspiegelten. Für Randgruppen gibt es keine Evidenzen oder Reviews, deswegen können keine Leitlinien erstellt werden. In solchen Fällen sollte man weiterhin direkt die Betroffenen befragen, welche Ziele für sie wichtig sind.

Die Quintessenz vieler Vorträge war, auch wenn Evidenz wichtig für den Fortschritt des Wissens innerhalb der Physiotherapie ist, so bedeutet die Umsetzung der Evidenz in den klinischen Alltag eine große Herausforderung, die genaue Planung und viel Zeit erfordert.

Auch persönliche Kontakte kamen nicht zu kurz. Bei einem Stehempfang am Abend vor Kongressbeginn, während der Mittagspausen und bei einem Umtrunk am Ende des 2. Tages konnte man viele interessante und aufgeschlossene Kollegen kennenlernen. Wie immer, wenn man lange genug „im Geschäft“ ist, trifft man Kollegen von ehemaligen Kollegen und Freunde von Freunden und alle Variationen davon, es ist immer wieder eine Überraschung! Der Höhepunkt war das gemeinsame Dinner in einem nahegelegenen Restaurant in einem wunderschönen alten Gebäude. Beim anschließenden Tanz wurde einmal mehr bewiesen, dass Physiotherapeuten gerne aktiv sind, die Tanzfläche war immer voll – oder lag es an der Auferstehung der Beatles, die zum Tanz aufspielten?

Den Abschlusssatz des gelungenen Kongresses sollten alle Physiotherapeuten ernst nehmen: „Stand up for physiotherapy!“ Setzen wir uns ein dafür, dass unser Beruf mit allen seinen Möglichkeiten und Vorteilen auch so in der Gesellschaft wahrgenommen wird!