physioscience 2014; 10(2): 83-84
DOI: 10.1055/s-0034-1366479
Veranstaltungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

8. Clinical Research Forum am Institut für Physiotherapie des Universitätsspitals Bern

M. Verra
,
M. Trippolini
,
G. Luder
,
H. Baur
Further Information

Publication History

Publication Date:
03 June 2014 (online)

Forschung in der ambulanten Physiotherapie

Die Initiatoren des 8. Clinical Research Forums, Maurizio Trippolini und Martin Verra, luden am 9. November 2013 nach Bern ein. Gemeinsam mit dem Institut für Physiotherapie und ihrem Kooperationspartner, der Berner Fachhochschule Gesundheit, fand mittels 3 Impulsreferaten, 2 Workshops und genügend Zeit für Networking eine Tagung zum vieldiskutierten Thema „Forschung in der ambulanten Physiotherapie“ statt.

Das Eröffnungsreferat hielt PD Dr. med. Stephan Reichenbach (Oberarzt Forschung/Epidemiologie und klinische Studien/Arthrose an der Universitätsklinik für Rheumatologie, Klinische Immunologie und Allergologie, Inselspital, Universitätsspital Bern und Institut für Sozial – und Präventivmedizin, Universität Bern). In einer Übersicht mittels eines Cochrane Reviews seiner Forschungsgruppe aus dem Jahr 2010 stellte er klar, dass Transkutane Elektrostimulation (TENS) bei Patienten mit Kniearthrose eine Effektstärke von –0,85 (95 %-Konfidenzintervall: –1,36 bis –0,34) zur Schmerzreduktion aufweist. Viele in diesen Review eingeschlossene Studien hatten jedoch relativ wenige Studienteilnehmer. Anhand des ambulanten multizentrischen Forschungsprojekts „Effekt der Transkutanen Elektrostimulation auf Schmerzen und Gelenksfunktion bei Menschen mit Kniearthrose“ (ETRELKA) stellte er die Möglichkeiten zur Minimierung des Small Sample Bias und Single Center Bias dar. Um die notwendigen 220 Patienten für diese randomisierte kontrollierte Studie einschließen zu können, wurde eine Kooperation mit mehreren zusätzlichen Physiotherapiepraxen aufgebaut.

Anja Waldvogel arbeitet als Physiotherapeutin in einer Praxis in Erlenbach (ZH). Sie stellte ihre im Rahmen ihrer Weiterbildung in muskuloskeletaler Physiotherapie in ihrer Physiotherapiepraxis erstellte Master-Arbeit zur Forschungsfrage „Hat Grafästhesie-Training einen Zusatzeffekt bei unspezifischen Rückenschmerzen mit Bewegungskontrolldefizit auf die Beschwerden, die Bewegungskontrolle und/oder die taktile Wahrnehmung?“ vor. Laut ihrer Schlussfolgerung war kein Zusatzeffekt durch das Grafästhesie-Training bezüglich der Beschwerden und der Bewegungskontrolle nachweisbar. Speziell für das Clinical Research Forum führte A. Waldvogel eine Befragung bei Physiotherapeuten in freien Praxen zur Teilnahme an Forschungsprojekten durch. In den 22 ausgewerteten Fragebogen gaben die Teilnehmer als Hindernisse und Stolpersteine vor allem Rekrutierungsschwierigkeiten, Zeitdruck, Instruktionen im Team und Mehraufwand für die Administration an. Nach Auffassung der Befragten müssten die Fachhochschulen und Universitäten statistische und finanzielle Unterstützung, Supervision und Instruktion zur Verfügung stellen. Als mögliche Vorteile der Forschung in ambulanter Physiotherapie nannten sie Abwechslung im Praxisalltag und Am-Ball-Bleiben. Anreize für mehr Forschung seien einfache Durchführbarkeit, Bezahlung durch Institute und „echte“ Teilnehmer.

Nanco van der Maas, Praxisinhaber in Brügg bei Biel, stellte verschiedene Projekte seiner langjährigen Forschungstätigkeit mit diversen Physiotherapiepraxen vor. Er machte gute Erfahrungen mit der Entwicklung und Validierung eines Fragebogens im Bereich der Multiplen Sklerose. Beeindruckend schilderte er die Situation der Privatpraxen: finanzielle Engpässe, Zeitdruck, Konkurrenz, die Praxisinhaber arbeiten meistens viel und lange und die Angestellten erledigen ihre Mitarbeit an einer Studie in der Freizeit. Trotzdem führte van der Maas 7 Projekte mit Beteiligung der ambulanten Physiotherapie durch. Eine deutsche Validierungsstudie mit 32 Physiotherapeuten aus 27 (!) Praxen konnte insgesamt 141 Patienten einschließen. Dabei kamen Physiotherapeuten und Praxen mehrheitlich aus der Fachgruppe „Physiotherapie bei Multipler Sklerose“. Persönliche Kontakte und Sympathien ergaben so einen direkten Nutzen für die Physiotherapeuten und die Patienten. Als Angebot für die Praxen wurde eine Tagung mit Kurs und Kursbestätigung durchgeführt. Als Vorteile für die Praxen nannte van der Maas Wissensgewinn, Weiterbildung, Ruf der Praxis (für Patienten und zuweisende Ärzte), modernes innovatives Image der Praxis und das gute Gefühl der Teilnahme an einem sinnvollen Projekt. Van der Maas empfiehlt eine langfristige Zusammenarbeit mit ausgesuchten Praxen, die Verteilung der Belastung über mehrere Praxen und – last but not least – die persönliche Kontaktpflege der Studienleiter mit den Physiotherapeuten in den Praxen.

Workshop 1: „Konservative Therapie bei Knick-/Senkfuß-assoziierten Beschwerden“

Referent: Heiner Baur, PhD, Leiter Bewegungslabor, Berner Fachhochschule Gesundheit

Bei Knick-/Senkfuss-assoziierten Beschwerden wird angenommen, dass in frühen Stadien eine konservative Therapie mit Fußorthesen und/oder kräftigende Übungen der betroffenen Muskulatur erfolgreich ist. Allerdings gibt es kaum aussagekräftige Studien zur wissenschaftlichen Evidenz dieser Maßnahmen.

Im Workshop wurde eine aktuell laufende Studie der Berner Fachhochschule in Kooperation mit dem Universitätsspital Bern vorgestellt, die neben dem klinischen Effekt verschiedener Therapiemaßnahmen auch die Funktion (Bewegungsmuster) der Patienten in alltagsrelevanten Situationen untersucht. Die Teilnehmer erhielten damit Einblick in ein physiotherapeutisches Forschungsprojekt im Bereich der Orthopädie und lernten den Prozess von einer Forschungsidee bis zur Umsetzung in einem konkreten Projekt kennen.


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Workshop 2: „Passive Tibiatranslation – Instrumentierte Messung von Weg und Kraft“

Referent: Gere Luder, MSc, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Physiotherapie, Inselspital, Universitätsspital Bern

In diesem Workshop wurde eine vom Inselspital und der Berner Fachhochschule gemeinsam entwickelte Methode zur Messung der passiven anterioren Translation vorgestellt. Die Idee ist, gleichzeitig sowohl die manuell ausgeübte Zugkraft zu messen als auch den Weg der Tibia kontinuierlich aufzuzeichnen. Das Verfahren wird aktuell in verschiedenen Studien mit hyperbeweglichen Frauen angewendet, um Unterschiede in der Tibiatranslation gegenüber Frauen mit normaler Beweglichkeit festzustellen. G. Luder erläuterte, wie ein solches Verfahren für die Wissenschaft entwickelt, die nötige Reproduzierbarkeit erreicht und das Ganze schließlich angewendet werden kann.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Forschung in der ambulanten Physiotherapie zwar schwierig, aber nicht unmöglich ist. Neben überdurchschnittlichem Engagement sind die folgenden beiden Kernfragen – so wie sie auch Nanco van der Maas treffend formulierte – entscheidend: „Interessiert sich diese Praxis mit ihren Physiotherapeuten für mein Projekt?“ und „Was könnte mein Projekt dieser Praxis bringen?“

Fernab des sonst üblichen Kongressstresses bot das Clinical Research Forum einen gelungenen Anlass zum Kennenlernen und Raum für regen Informationsaustausch für Forschungsinteressierte.

Aktuelle Informationen über das Clinical Research Forum und die Stiftung Physiotherapie-Wissenschaften unter: www.physiotherapie-wissenschaften.ch/crf/index.html.

Das 9. Clinical Research Forum zum Thema „Single-Case Research Designs“ findet am 15. November 2014 im Rehazentrum Valens (Schweiz) statt.

Im Jahr 2005 initiierten Maurizio Trippolini und Martin Verra das Clinical Research Forum. Dessen Ziel besteht darin, die Netzwerkbildung unter forschenden Physio- und Ergotherapeuten zu fördern und die Weiterentwicklung der klinisch orientierten und angewandten Forschung zu unterstützen. Dabei sollen Informationen und Ideen ausgetauscht und eine Umgebung kreiert werden, in der Innovation entstehen kann. Das Forum versteht sich als Ergänzung zu den Fachkongressen. Es wird jedes Jahr an einem anderen Ort in der Schweiz ausgetragen (Rehabilitationsklinik, Akutspital, akademische Institution). Die Organisation erfolgt durch die Initiatoren in Zusammenarbeit mit dem Partner am jeweiligen Austragungsort und findet einmal jährlich im Herbst statt.

Das Clinical Research Forum ist ein Projekt der Stiftung Physiotherapie-Wissenschaften (www.physiotherapie-wissenschaften.ch). Die Stiftung unterstützt die klinische Forschung in der Physiotherapie und fördert die wissenschaftliche Laufbahn angehender Doktoranden durch die Vergabe eines PhD-Grant.

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Abb. 1 Organisatoren und Referenten (v. l. n.r): Gere Luder, MSc, PT (Workshop-Leiter), Martin Verra, PhD, PT (Initiator und Organisation), Anja Waldvogel, MAS, PT (Referentin), Nanco van der Maas, PT (Referent), Maurizio Trippolini, MSc, PT (Initiator). Es fehlen: Dr. Heiner Baur, PhD (Workshop-Leiter) und PD Dr. med. Stephan Reichenbach (Referent).
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Abb. 2 Gere Luder leitete den Workshop „Passive Tibiatranslation – Instrumentierte Messung von Weg und Kraft“.

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