Zusammenfassung
Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste chronische immunmediierte Erkrankung, die
mit gravierenden somatischen und psychischen Symptomen einhergehen kann. Lag der Fokus
früherer Forschungsarbeiten auf den neurologischen Symptomen der Erkrankung, hat es
in den letzten Jahren vermehrt Veröffentlichungen zu den psychischen Symptomen und
Begleiterscheinungen gegeben. Inzwischen ist bekannt, dass kognitive Defizite bei
ungefähr der Hälfte der MS-Patienten auftreten und sich nachteilig auf die Lebensführung
und -qualität der Betroffenen auswirken. Bislang werden die kognitiven Störungen als
mehr oder weniger isoliert auftretende kognitive Funktionsstörungen moderaten bis
mäßigen Ausmaßes beschrieben, während gravierende Funktionseinbußen im Sinne einer
Demenz als eher selten angesehen werden. Im vorliegenden Artikel beschreiben wir die
bei MS typischerweise defizitär ausgeprägten kognitiven Funktionsbereiche und stellen
differenzialdiagnostische Überlegungen darüber an, ob die Diagnose „Demenz“ bei MS-Patienten
aus diversen Gründen (u. a. Progredienz kognitiver Defizite im Krankheitsverlauf,
bis dato zu starke Fokussierung auf Gedächtnisdefizite als Leitsymptom demenzieller
Erkrankungen, Mangel an longitudinalen Untersuchungen des kognitiven Leistungsniveaus)
möglicherweise unterrepräsentiert ist. Ferner empfehlen wir für die Praxis ein mehrstufiges
neuropsychologisch-diagnostisches Vorgehen, das darauf abzielt, kognitive Defizite
bei Personen mit MS möglichst frühzeitig zu diagnostizieren und den Betroffenen im
weiteren Verlauf der Erkrankung möglichst passgenaue Therapien anbieten zu können,
mit dem Ziel einer Optimierung des psychosozialen Funktionsniveaus.
Abstract
Multiple sclerosis (MS) is the most common chronic immune-mediated disease which goes
along with serious somatic and psychic symptoms. Whereas recent research rather focussed
on the neurological symptoms of MS, there is nowadays an increasing interest among
researchers in psychological symptoms of the disease. It is known that about half
of the MS patients suffer from cognitive deficits, and that cognitive decline has
a disadvantageous impact on lifestyle and quality of life in affected persons. So
far, cognitive deficits in subjects with MS have been described as rather isolated,
specific cognitive disturbances with otherwise intact intellectual abilities, while
global deterioration of mental skills in terms of dementia is considered as being
rather rare. In the present article, we describe cognitive domains which are typically
impaired in subjects with MS and reflect on the question if the diagnosis of dementia
might be underrepresented in MS patients due to several reasons (e. g., progression
of cognitive deficits in the course of the disorder, adhering very closely to memory
deficits as cardinal symptom of dementia, lack of longitudinal studies of cognitive
performance levels). Furthermore, we recommend a multistage neuropsychological diagnostic
procedure for clinical practice which aims at diagnosing cognitive deficits already
in early stages of the illness. In so doing, practitioners may be able to offer adequate
therapies to affected persons in all stages of the disorder in order to improve psychosocial
functional levels.
Schlüsselwörter
Multiple Sklerose - Kognition - Demenz - leichte kognitive Störung - neuropsychologische
Diagnostik
Key words
multiple sclerosis - cognition - mild cognitive impairment - dementia - neuropsychological
assessment