physioscience 2012; 8(3): 117-122
DOI: 10.1055/s-0032-1313101
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anforderungen an Physiotherapeuten im Handlungsfeld ambulante Physiotherapiepraxis

Qualitative InterviewstudieDemands for Physiotherapists in the Operational Area of Outpatient Physiotherapy PracticeQualitative Interview Study
M. Grafe
1   Fachhochschule Münster
,
A. Probst
2   HAWK – Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Hildesheim
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

20 February 2012

05 June 2012

Publication Date:
17 August 2012 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Die derzeitige Situation in der Physiotherapie ist durch einen Wandel der Ausbildungsstrukturen gekennzeichnet. Die Zunahme an Studienangeboten zeigt die aktuelle Entwicklung der Akademisierung. Ein Grund für diese Entwicklungen sind steigende Anforderungen im Gesundheitswesen, die zu einem großen Teil aus dem demografischen Wandel resultieren. Multimorbidität, chronische Erkrankungen und dadurch steigende Kosten erfordern neue Versorgungsstrukturen und Konzepte der einzelnen Akteure im Gesundheitswesen. Die aktuell gültige physiotherapeutische Ausbildungs- und Prüfungsordnung orientiert sich in ihren Kernelementen stark an einer naturwissenschaftlich-technischen Sichtweise auf das Arbeitshandeln in der Physiotherapie. Die herausfordernden Bedingungen der physiotherapeutischen Arbeit, die sich aus der Definition der Physiotherapie als personenbezogener Dienstleistungsberuf ergeben, finden sich dagegen eher weniger bis gar nicht in der Ausbildungs-und Prüfungsordnung.

Ziel: Identifizierung von Anforderungen an das Arbeitshandeln von Physiotherapeuten im Handlungsfeld ambulante Physiotherapiepraxis.

Methode: 5 angestellte Physiotherapeuten mit unterschiedlicher Berufserfahrung und Qualifikation wurden leitfadengestützt und mithilfe des problemzentrierten Interviews befragt. Die erhobenen Daten wurden transkribiert und in Anlehnung an die Grounded theory ausgewertet.

Ergebnisse: Die identifizierten Anforderungen lassen sich 2 Themen zuordnen: Rahmenbedingungen des Arbeitshandelns und Behandlungsprozess. Die Rahmenbedingungen im Handlungsfeld ambulante Physiotherapiepraxis sind durch Zeitmangel geprägt, der sich aus einem Widerspruch der zeitlichen Abläufe und der darin zu bewältigenden Aufgaben ergibt. Im Zusammenhang mit dem Behandlungsprozess identifizierte Anforderungen resultieren aus der Interaktion zwischen Patient und Therapeut und konnten den Bereichen Planung, Kommunikation und Beziehungsgestaltung zugeordnet werden. Diese Anforderungen stehen in engem Zusammenhang und führen häufig zur Überforderung der Therapeuten.

Schlussfolgerung: Interaktion ist als zentrale Aufgabe der Physiotherapie zu verstehen und daher systematisch in das pädagogische Konzept und die methodisch-didaktische Umsetzung der Ausbildung zu integrieren. Bei berufspolitischen Entscheidungen müssen Physiotherapeuten zudem auf die besonderen Anforderungen von Interaktionsarbeit hinweisen und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen einfordern.

Abstract

Background: At present physiotherapy is characterised by educational system changes. Increasing study program offers represents this rapid academisation progress. One reason for this development is the growing demands in the health-care system caused by demographic changes. Multimorbidity, chronic diseases and increasing costs require new patient-centered structures and concepts of the several health care professionals. The currently valid physiotherapy training and examination regulation’s core elements are mainly based on a scientific-technological perspective towards physiotherapeutic practice. The challenging conditions resulting from the definition of physiotherapy as service occupation, however, are hardly or not at all to be found in physiotherapy training and examination regulations.

Objective: Identifying requirements of physiotherapists working in the area of outpatient physiotherapy practice.

Methods: Five employed physiotherapists with varying professional experience and qualification were interviewed using a guideline-based and problem-centered approach. The collected data was transliterated and evaluated on the basis of the grounded theory.

Results: The identified demands can be allocated to 2 topics: determining factors and treatment process. As a consequence of the inconsistency of time schedule and tasks in hand, the determining factors in the area of outpatient physiotherapy are characterised by a constant lack of time. The demands related to the treatment process are due to the interaction between patient and therapist and can be allocated to planning, communication and patient-therapist-relationship. These challenges are closely related and often lead to therapists’ overstrain.

Conclusions: Interaction is considered to be physiotherapy’s central purpose and therefore must be systematically implemented into the pedagogic concept and the methodologic-didactic training. During occupational political decisions physiotherapists must point out the significance of interaction and stipulate the necessary determining factors.

 
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