physioscience 2012; 8(2): 83-85
DOI: 10.1055/s-0032-1312788
Veranstaltungsbericht
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Ethik in der interdisziplinären Therapieforschung bei Kindern mit Entwicklungsstörungen

S. Ringmann
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Publication Date:
23 May 2012 (online)

Vom 5.–9. März 2012 fand im Radisson Hotel in Rostock die Klausurwoche Ethik in der interdisziplinären Therapieforschung bei Kindern mit Entwicklungsstörungen statt, die von Prof. Dr. Julia Siegmüller (Professur für Therapieforschung und Therapiemethodik) und Svenja Ringmann (komm. Professur für Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen) ausgerichtet wurde. Die beiden Frauen leiten das an den Fachbereich Angewandte Gesundheitswissenschaften der Europäischen Fachhochschule (EUFH) angegliederte Logopädische Institut für Forschung (LIN.FOR) in Rostock.

Die Klausurwoche wurde im Rahmen des Förderschwerpunkts Ethische, rechtliche und soziale Aspekte der modernen Lebenswissenschaften und der Biotechnologie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Die in diesem Förderschwerpunkt geförderten Klausurwochen zielen auf eine Schulung der interdisziplinären Kommunikation und Arbeitsfähigkeit junger, an disziplinenübergreifendem Arbeiten interessierter Wissenschaftler aus relevanten Fachdisziplinen ab.

In der Veranstaltung ging es um Therapiestudien bei Kindern mit Entwicklungsstörungen. Unterteilbar sind Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens, umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fähigkeiten, umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen und kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen. Verschiedene therapeutische Berufsgruppen führen Interventionsstudien zur Überprüfung der Wirksamkeit von Therapieverfahren bei den betroffenen Kindern durch. In Übereinstimmung mit dem Wirksamkeitsgebot des SGB V (§§ 2, 12) fordern die Krankenkassen zunehmend die Evidenzbasierung der verwendeten Therapieverfahren auch von Heilmittelerbringern. Die Heilmittelberufe Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie befinden sich seit Verabschiedung der Modellklausel im Deutschen Bundestag 2009 im Prozess der Akademisierung. Damit steht die Entwicklung der bisherigen Ausbildungsberufe zu eigenständigen Forschungsdisziplinen am Anfang. Bisher gibt es keinen (vollständigen) disziplinären wissenschaftlichen Unterbau für die einzelnen Fächer, der das Patientenbild, die Therapieethik und Forschungsethik beinhaltet.

15 Teilnehmer unterschiedlicher Disziplinen kamen zusammen, um sich zur Forschungsethik der Therapie bei Entwicklungsstörungen auszutauschen ([Abb. 1]). Der Medizinethiker Dr. med. Gerald Neitzke (Medizinische Hochschule Hannover) gab eine Einführung in die medizinische Forschungsethik und die Deklaration von Helsinki. Neben der Begriffsbestimmung zu Ethik und Moral analysierte er moralische Werte in der Forschung und warf die noch zu beantwortende Frage auf, ob sich die (Forschungs-)Ethik der Gesundheitsfachberufe an die Bereichsethik der Medizinethik angliedern oder aber eine eigenständige, von der Medizinethik losgelöste Bereichsethik darstellen solle. Neitzke stellte Kriterien für die ethische Bewertung von Studien aus der Medizinethik vor, deren Modifikation für die Therapie bei Entwicklungsstörungen noch aussteht. Nach einem Überblick über die Geschichte des Humanexperiments im 19./20. Jahrhundert beschäftigten sich die Teilnehmer mit der Deklaration von Helsinki als 1. weltweit anerkannten Kodex zur medizinischen Forschung. Die Deklaration diente als Schablone, um eine Definition der Ethik der Kindertherapieforschung zu bestimmen und Gemeinsamkeiten mit der Medizinethik bzw. notwendige Spezifizierungen herauszuarbeiten.

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Abb. 1 Die Teilnehmer der Ethikwoche: Ann-Kennedy Behr, Christoph Schickhardt, Cornelie Zillhardt, Henning Rosenkötter, Judith Beier, Ute Steding-Albrecht, Patricia Pomnitz, Cordula Winterholler, Kathrin Reichel, Beate Lenck, Julia Siegmüller, Heidrun Becker, Svenja Ringmann, Susan Ott (v. l. n. r.). Es fehlen: Birgit Stubner, Natalia Gagarina und Claudia Peter.

Der Theologe Philipp Meyer (Superintendent des evangelisch-lutheranischen Kirchenkreises Pyrmont-Hameln) leitete den Wert von Sprache und Sprachfähigkeit des Menschen aus der Bibel ab und gab somit einen Einblick in die theologische Begründung des Wertes von Kindersprachtherapie.

Die Philosophin und Psychologin Dr. phil. Kathrin Schulz stellte ein ethisches Entscheidungsmodell zur Operationalisierung ethischer Urteilsbildung und eine philosophische Begründung des Wertes von Kindersprachtherapie bzw. -forschung vor ([Abb. 2]).

Die Prof. für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Ethik/Sozialphilosophie, Prof. Susanne Dungs, erläuterte die Ansätze Kants und Hegels zum Verhältnis von Moral, Individuum und Gesellschaft. Danach wurden die Folgen einer übermäßigen Fokussierung auf die Methodik von Forschung diskutiert, die möglicherweise dazu führt, dass über die Relevanz und Bedeutung von Forschung nicht mehr ausreichend reflektiert wird.

Dr. phil. Bert Heinrichs, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), sprach zum Thema Forschung mit Minderjährigen. Nach einem Streifzug durch die Historie zum Umgang mit minderjährigen Probanden wurde insbesondere das Thema der informierten Einwilligung behandelt.

Dr. Michael Fuchs, Geschäftsführer des Instituts für Wissenschaft und Ethik (IWE), gab einen Überblick über Ethikkommissionen und -beiräte im internationalen Vergleich. Die Frage bleib offen, ob aufgrund der hohen Gefährdung von Kindern für den Bereich der Kindertherapieforschung eine eigene Ethikkommission sinnvoll ist. Außerdem wurde über die Ethik „guter wissenschaftlicher Praxis“ und deren Verbindlichkeit diskutiert. Mehr Reflexion über gute wissenschaftliche Praxis und deren Umsetzung innerhalb der Gesundheitsfachberufe ist auch aus einer ethischen Motivation heraus nötig.

Ein Ergebnis der Klausurwoche ist ein Fragenkatalog, der sich aus ethischen Fragestellungen aus dem Forschungsalltag der Teilnehmer ergab. Dabei wurden zukünftig zu bearbeitende ethische Fragestellungen gesammelt sowie strukturiert und erste Thesen festgehalten. Da die Erlangung ethischer Wertmaßstäbe einen langwierigen Prozess darstellt, stellt die Klausurwoche einen Startpunkt zur Diskussion der aufgeworfenen Fragen dar.

Im Folgenden werden exemplarisch einige der aufgeworfenen Fragen und Thesen dargestellt.

Das 1. Themenfeld des Fragenkatalogs beinhaltet die Fragen nach Studiendesigns und nach der Einwilligung von Teilnehmern. Anders als bei Störungen im Erwachsenenalter ist bei Kindern eine Eigendynamik gegeben, da sie sich noch in der Entwicklung befinden. Um die Effektivität einer Therapie im Bereich der Entwicklungsstörungen zu belegen, ist Evidenz erforderlich, dass durch die Therapie größere Entwicklungsfortschritte ausgelöst werden als durch den gleichzeitig stattfindenden eigendynamischen Prozess (Spontanverlauf). Einen solchen Beleg können Kinder mit vergleichbarem Störungsprofil erbringen, die keine Therapie bzw. eine Placebobehandlung erhielten. Bei diesem Vorgehen ergeben sich jedoch ethische Probleme: In der Literatur wird immer wieder beschrieben, dass eine möglichst frühe Intervention bei Entwicklungsstörungen zu signifikant besseren Ergebnissen führt. Dies wird mit sensiblen Entwicklungszeitfenstern erklärt, in denen die Bedingungen für bestimmte Entwicklungsprozesse durch die neuronalen Gegebenheiten ideal sind. Im ungünstigsten Fall wird durch das Verbleiben in einer untherapierten Kontroll- bzw. Placebogruppe das sensible Entwicklungszeitfenster verpasst. Deshalb stellt sich die Frage nach dem Verfahren mit untherapierten Kontrollgruppen bzw. nach methodischen Alternativen. Die sensiblen Entwicklungszeitfenster bedürfen zudem klarerer empirischer Belege, um sie besser fassen zu können.

Für jede Therapiestudie ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis von Nutzen (z. B. Kindeswohl) und Schaden (Risiko, Belastung) bzw. ob Nutzen und Schaden direkt vergleichbar sind, gegeneinander aufgewogen werden können und wer das Risiko für die Entscheidung zur Studienteilnahme eines Kindes trägt (Forscher, Eltern oder verordnender Arzt?). Zudem ist fraglich, ob bei einem hinreichend großen Gesamtnutzen das Außerkraftsetzen individueller Abwehrrechte von kindlichen Probanden gerechtfertigt ist bzw. ob diese Gefahr minimiert werden kann.

Da Minderjährige oft noch nicht über die kognitiven, voluntativen und emotiven Fähigkeiten verfügen, um selbstständig eine gültige Einwilligung zur Studienteilnahme zu erteilen, ist es wichtig, Settings und Formen der Information und Zustimmung zu finden und zu erproben, die den jeweiligen Kompetenzen der Kinder entsprechen. Dabei zählt für eine Teilnahme die individuelle Zustimmung des Kindes, d. h. Widerstand bzw. Ablehnung müssen akzeptiert werden. Über die Art und Weise der eingeholten Zustimmung von kindlichen Probanden (z. B. auch über nonverbale Zeichen) sollen Studien berichten. Dabei ist Informed consent als Prozess zu begreifen, in dem die Einwilligung der an einer Studien teilnehmenden Kinder regelmäßig aufs Neue überprüft werden soll.

Das 2. Themenfeld beinhaltete die Begutachtung und Beratung zu ethischen Fragen, wie z. B., ob für den Bereich der interdisziplinären Therapieforschung bei Entwicklungsstörungen eine eigene Ethikkommission sinnvoll ist. Der ausschlaggebende Punkt für eine solche Entscheidung liegt im Ausmaß der Gefährdung der Kinder, die an entsprechenden Studien teilnehmen. Im Falle des Zustandekommens einer fachspezifischen Ethikkommission wäre über die Angliederung der Kommission, deren Zusammensetzung, Ausstattung, Verfahren und rechtliche Verbindlichkeit zu entscheiden. Zudem ist zu klären, welche Studienarbeiten (Bachelor, Master) ethisch beraten und begutachtet werden sollen.

Drittens ergaben sich Fragen zum der Kindertherapie und ihrer Erforschung zugrunde liegenden Menschenbild. Grundlagen sind zunächst die vorbehaltslose Annahme aller Probanden und die UN-Konvention für Kinderrechte. Das Menschenbild, z. B. die Frage danach, ob es eine Normalität gibt, unter der sich das Gros der Menschen wiederfindet oder nicht, hat Implikationen für Therapie- und Forschungsansätze. Eine Therapieindikation kann sich nicht nur aus einer Verletzung der Norm ergeben, sondern beinhaltet auch Kategorien wie Lebensqualität, Wohlbefinden und Autonomie. Dadurch ändern sich auch mögliche Therapieziele: Geht es um die maximale Optimierung der Leistung oder darum, ein Kind so zu begleiten, dass es an seiner Störung keinen Schaden nimmt? Eine Definition der Menschenbilder für die einzelnen Gesundheitsfachberufe ist notwendige Voraussetzung, um Sinn und Nutzen der Therapie (und Therapieforschung), ihren Inhalt und das methodische Vorgehen abzuleiten und zu begründen.

Am Ende der Klausurwoche wurde der Wunsch nach einer Nachfolgetagung laut. Entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten werden recherchiert. Der entstandene Fragenkatalog wird dem Hochschulverband für Gesundheitsfachberufe (HVG) vorgestellt und dort die Gründung einer Arbeitsgruppe „Ethik“ vorgeschlagen, innerhalb derer der in der Klausurwoche begonnene Diskurs weitergeführt werden kann. Die Fragen zur Ethik in der Lehre konnten aus Zeitgründen nicht behandelt werden, weshalb das Thema an die Fachkommission Studium und Lehre des HVG übergeben wird. Weiterhin ist eine Expertentagung zur Wissenschaftstheorie in den Gesundheitsfachberufen geplant. Die Ergebnisse der Klausurwoche werden in einer Buchpublikation in Form eines Sammelbandes erscheinen.

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Abb. 2 Impulsreferat von Dr. Kathrin Schulz.