Rehabilitation (Stuttg) 2013; 52(02): 86-95
DOI: 10.1055/s-0032-1308967
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Effekte stationärer Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen für Mütter und Kinder – Eine kontrollierte Vergleichsstudie

Effects of Inpatient Preventive and Rehabilitative Measures for Mothers and their Children – A Controlled Comparison Trial
F. Otto
1   Medizinische Soziologie OE 5420, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
06 June 2012 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund und Ziel:

Die Evaluation von Rehabilitationsmaßnahmen erfolgte lange Zeit überwiegend im Ein-Gruppen-Prä-Post-Design oder durch Vergleich verschiedener Interventionsprogramme. Ziel der vorliegenden Studie war es, Status und mittelfristige Veränderungen der gesundheitlichen und psychosozialen Lage von Müttern mit bzw. ohne Bewilligung und Teilnahme an einer stationären Mutter-Kind-Maßnahme zu untersuchen.

Methode:

Die Erstbefragung der Frauen (T1) erfolgte zum Zeitpunkt der Antragstellung, die Nachbefragung (T2) 6 Monate später (Ngesamt=477). Zu diesem Zeitpunkt hatten 353 Mütter eine Mutter-Kind-Maßnahme absolviert (IG=Interventionsgruppe), 75 Frauen hatten die bewilligte Maßnahme noch nicht angetreten (WG=Wartegruppe). 49 Anträge waren endgültig abgelehnt worden (AG=abgelehnte Gruppe). Untersucht wurde, inwiefern sich die Mütter der 3 Teilstichproben zum Zeitpunkt der Beantragung einer Mutter-Kind-Maßnahme und nach erfolgter bzw. ausgebliebener Intervention hinsichtlich gesundheitlicher Parameter unterschieden. Die Outcome-Variablen orientierten sich an der Begutachtungsrichtlinie Vorsorge und Rehabilitation des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Dauer bzw. Schweregrad von Befindlichkeitsstörungen (z. B. Nervosität), somatischen und psychischen Erkrankungen, psychosozialen Kontextfaktoren (z. B. Alleinerziehen) sowie Einschränkungen der Aktivitäten und Partizipation, bezogen auf die familiäre und berufliche Situation der Mütter, wurden über Likert-skalierte Itembatterien ermittelt (indirekte Veränderungsmessung). Die psychische Gesamtbelastung wurde mittels SCL-K-9 erfasst.

Ergebnisse:

Zum Zeitpunkt der Antragstellung wiesen Mütter mit Maßnahmebewilligung (IG und WG) durchschnittlich höhere Belastungen und Beschwerden auf als Mütter der AG, wobei sich allerdings keine signifikanten Unterschiede ergaben. Nach 6 Monaten zeigten die Mütter der IG hoch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserungen. Große Effekte wurden hinsichtlich der Zahl der Erkrankungen, Befindlichkeitsstörungen, Einschränkungen der Aktivitäten und Partizipation und der psychischen Gesamtbelastung erzielt, kleine Effekte bei der Reduktion psychosozialer Belastungen. Im Gegensatz dazu war die Zahl der Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen bei den Müttern der WG und der AG tendenziell angestiegen. Die psychische Gesamtbelastung nahm in beiden Gruppen ohne Intervention zu. Der Anstieg war in der WG signifikant, in der AG wurde annähernd der Wert der IG vor der Intervention erreicht.

Schlussfolgerung:

Stationäre Mutter-Kind-Maßnahmen verbessern die gesundheitliche Lage nicht nur kurzfristig, sondern führen auch mittelfristig zu einer klinisch bedeutsamen Reduktion der Belastungen und Beschwerden. Demgegenüber verschlechtert sich die gesundheitliche Lage bei Ausbleiben einer Intervention bei der Mehrzahl der Frauen. Das trifft auch auf die Mütter zu, deren Antrag abgelehnt wurde. Im Bewilligungsverfahren für eine Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme sollten Selbstauskunftsbögen verstärkt berücksichtigt werden, um Mütter mit Behandlungsbedarf frühzeitig zu erkennen. Eine notwendige Mutter-Kind-Maßnahme sollte zeitnah angetreten werden.

Abstract

Purpose:

Rehabilitation measures have for a long time been evaluated primarily by means of pre-post comparisons of the group examined or by comparing different intervention programmes. This study was aimed at examining the current status and medium-term changes of mothers’ health and psychosocial situation, comparing mothers with or without approval and participation in an inpatient mother-child rehabilitation measure.

Method:

The sample consisted of 477 women. The first survey (T1) took place at the time of application; the postal follow-up survey (T2) was carried out 6 months later. At this point 353 mothers had completed their measure (IG=intervention group); 75 women had not yet started (WG=waiting group), and 49 applications had finally been rejected (AG=rejected group). This study examines how far the 3 groups differ with respect to their health parameters at the time of application as well as 6 months later. The outcome variables, containing health complaints, somatic and mental illnesses, psychosocial factors (e. g., single parenthood), or restrictions of daily activities and the range of participation in family and job affairs, were selected following the assessment guidelines of the Medical Review Board of the Statutory Health Insurance Funds (MDS). Duration and severity of symptoms were measured with Likert scales (indirect measurement of change), the mental health status with SCL-K-9.

Results:

At the time of application the 3 groups of mothers did not differ significantly with respect to their complaints and symptoms, but some minor tendencies became apparent. Mothers, who were admitted for the intervention (IG and WG) showed more complaints and symptoms than mothers, whose applications had been rejected (AG). 6 months later, highly significant changes and clinically important improvements were observed for IG mothers: large effects were achieved regarding the number of illnesses, health complaints, the degree of daily activities and participation as well as mental health of participants. Minor effects were obtained with respect to psychosocial strains. In contrast the number of illnesses and health complaints among mothers, who had not (yet) participated, increased within half a year. Similarly, psychological strains were greater than before: in the waiting group they had risen significantly, in the rejected group values resembled those of the intervention group before intervention.

Conclusion:

Inpatient measures do not only cause short-term improvements of mothers’ health status, they also lead to clinically relevant reductions of health impairments and complaints in the medium term. In contrast, the health status of mothers, who miss the intervention, deteriorates. This also applies to mothers, who were rejected. Therefore, it is highly recommended to take the self-reporting forms into account when identifying mothers for the intervention, and also to start the intervention early after the approval.

 
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