physioscience 2011; 7(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-0031-1281661
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interessenskonflikte in der Forschung – erörtert am Beispiel der Neurorehabilitation

D. Brötz1 , K.-F. Heise2
  • 1Doris Brötz, Physiotherapie und Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie
  • 2Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Further Information

Publication History

Publication Date:
07 September 2011 (online)

In ihrer jüngsten Untersuchung stellten die Verfechter und Entwickler der robotergestützten Rehabilitation [4] mithilfe einer dreiarmigen, randomisierten und kontrollierten Studie fest, dass die robotergestützte Therapie in der Nachbehandlung von Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit der oberen Extremität nach Schlaganfall im chronischen Stadium deutlich kostengünstiger ist als konventionelle Physiotherapie. Interessanterweise beziehen sich diese Berechnungen auf eine unter anderem im hochrangigen New England Journal of Medicine publizierte Arbeit, die keinen Vorteil der robotergestützten Intervention im Vergleich zu einer in der Trainingsintensität gleichen konventionellen Therapieintervention in motorisch-funktionellen Ergebnisparametern zeigen konnte [1] [2].

Nun stellen also dieselben Autoren fest, dass eine konventionelle Physiotherapiesitzung nahezu doppelt so teuer ist wie die Sitzung mit einem modernen Therapieroboter (MIT Manus), nämlich US$ 218,– gegenüber US$ 140,–. Wie kommen diese Zahlen zustande? Zum einen wird zur Unterstützung der Argumentation der Unterschied in den sekundären Ergebnisparametern herangezogen, der sich in der Studie ausschließlich zwischen der robotergestützten und derjenigen Gruppe, die nicht das gleiche Maß an konventioneller Therapie erhalten hatte, nur direkt nach der 12-wöchigen Intervention gezeigt hatte. Es gab einen signifikanten Unterschied in der Stroke Impact Scale (SIS), einem Instrument, das die selbsteingeschätzte Beeinträchtigung durch den Schlaganfall erhebt und sich daher in das Konzept der Lebensqualität einordnen lässt.

Nicht erwähnt wird in dem aktuellen Stroke-Artikel, dass sich ein Unterschied zwischen den Gruppen mit gleicher Therapieintensität in der SIS fand und der erwähnte Unterschied nach 24 und 36 Wochen nicht mehr messbar war. Erst in den ergänzenden, ausschließlich online publizierten Materialien ist nachzulesen, dass z. B. die exakte Zeit, in der Therapeuten die robotergestützte Therapie begleiteten, nicht in die Kostenkalkulation aufgenommen wurde. Die Autoren begründeten dieses Vorgehen damit, dass diese Zeit nicht standardisierbar und damit auch verallgemeinerbar sei, weshalb pauschal eine 15-minütige therapeutische Betreuung pro Patient für die robotergestützte Therapieeinheit veranschlagt wurde. Die hohen Anschaffungskosten des Therapieroboters wurden durch eine raffinierte Kalkulation kleingerechnet, indem die Gesamtkosten für Anschaffung und Wartung auf eine maximal mögliche Auslastung über 5 Jahre ausgelegt wurden. Auf diese Weise kalkulieren die Autoren einen Preis von zusätzlich US$ 20,– für eine 1-stündige Therapiesitzung mit dem Therapieroboter.

Ein weiterer problematischer Punkt bleibt die Tatsache, dass die Wirksamkeit der robotergestützten Therapie immer in Kombination mit konventioneller Therapie gegeben ist. Die robotergestützte Therapie alleine zeigt keine Vorteile gegenüber 1:1 therapeutisch geleiteter Therapie in motorisch-funktionellen Ergebnisparametern und im Transfer in die Selbstständigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens [3]. Eine solche Veröffentlichung verleitet jedoch dazu, diesen Schluss zu ziehen und die Personalkosten gegen die Anschaffungs- und Wartungskosten von Therapierobotern aufzurechnen. Kosten-Nutzen-Rechnungen im Gesundheitssystem sind und bleiben problematisch, da auch Konzepte wie qualitätsbereinigte Lebensjahre diese Rechnung nicht in jeder Hinsicht objektiver und nachvollziehbarer machen.

Insgesamt ist die Evidenzlage zu sogenannten Hands-on-Therapieinterventionen – die vielfach aber nicht ausschließlich den herkömmlichen Konzepten und alten Schulen der Physiotherapie entsprechen – in der Nachbehandlung nach Schlaganfall noch viel zu dünn, um eine pauschale Aussage über deren Wirksamkeit zu treffen [5], geschweige denn Kosten-Nutzen-Rechnungen erstellen zu können.

Welche Fragestellungen finden Eingang in die physiotherapeutisch relevante Forschung? Das ist eine erstaunliche Frage, weil die Antwort auf der Hand liegen müsste: alle, die sich damit beschäftigen, die Lebensqualität der Patienten zu optimieren und für diese bedeutsame Ziele verfolgen. Ein 2. Themenfeld ist die Grundlagenforschung. Hier sollten Fragestellungen Eingang finden, die sich mit den Grundlagen des motorischen Lernens und der Wirkweise bestimmter Rehabilitationsmaßnahmen beschäftigen. Beide Bereiche sind für die Physiotherapie bedeutend.

Wer konkurriert um die zur Verfügung stehenden Forschungsgelder? Neurologen, Neuropsychologen, Ärzte für Physikalische Medizin, Psychologen, Ingenieure, Informatiker, Sportwissenschaftler, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten. Kooperationspartner können die Pharmaindustrie, Hersteller von Trainingsgeräten (z. B. Armroboter, Laufband, Elektrostimulation) sowie von Geräten zur Messung von Therapieeffekten wie Kernspintomografen oder Bewegungsanalysesystemen sein.

In einigen Ausschreibungen größerer Projekte, wie z. B. der Europäischen Union (EU) oder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist die Kooperation mit der Industrie ausdrücklich gewünscht. Folglich werden zur Neurorehabilitation über Effektivität von Medikamenten, unterschiedliche Methoden zur Hirnstimulation, Laufbandtraining, Training an verschiedenen Robotern oft in Kombination mit Computerspielen und peripherer Elektrostimulation zahlreiche Untersuchungen durchgeführt.

Bei der Betrachtung physiotherapeutischer Therapiemethoden, die ausschließlich auf der spezifischen Auswahl von Übungen und deren Anleitung sowie dem manuellen Geschick der Therapeuten beruhen, lässt sich feststellen, dass die in Deutschland üblichen physiotherapeutischen Methoden (z. B. Bobath, Vojta und PNF) praktisch nicht erforscht werden.

Wissenschaft soll frei und unabhängig von äußeren Zwängen sein. Der Antrieb zu Forschung und Publikation sollte in der Neugier auf Erkenntnisgewinn basieren. In der medizinischen Forschung ist ein mitmenschlicher Antrieb wünschenswert. Die Linderung von aus Krankheit resultierendem Leid ist ein erstrebenswertes Ziel.

Angesichts der oben erwähnten Tatsachen werfen sich hier einige Fragen auf: Welche Impulse geben Physiotherapeuten zur Entwicklung und Beschreibung neuer Behandlungskonzepte? Welche Rolle spielen Physiotherapeuten bei der Erforschung der Effektivität ihrer Arbeit? Was treibt Wissenschaftler anderer Berufsgruppen an, die Effektivität der Physiotherapie zu untersuchen? Wer verteilt und wer bekommt Forschungsgelder? Wer verdient in der Folge durch bestimmte Ergebnissen Geld? Weiterführende Fragen, die sich aus der bestehenden Evidenz ergeben sind: Wer erstellt Leitlinien? Wie stehen die entsprechenden Personen in Beziehung zueinander?

Gibt es Bedarf die Bewegungskontrolle und die Lebensqualität von Patienten mit neurologischen Erkrankungen weiter zu verbessern? Ja! Also sollten sich Physiotherapeuten hier engagieren. Indem sie Behandlungskonzepte entwickeln, beschreiben und in wissenschaftliche Untersuchungen einbringen, stellen sie sich der Prüfung ihrer Profession. In der Folge wird durch optimierte Physiotherapie den Patienten geholfen.

Doris Brötz und Kirstin-Friederike Heise

Literatur

  • 1 Lo A C, Guarino P, Krebs H I. et al . Multicenter randomized trial of robot-assisted rehabilitation for chronic stroke: methods and entry characteristics for VA ROBOTICS.  Neurorehabil Neural Repair. 2009;  23 775-783
  • 2 Lo A C, Guarino P D, Richards L G. et al . Robot-assisted therapy for long-term upper-limb impairment after stroke.  N Engl J Med. 2010;  362 1772-1783
  • 3 Mehrholz J, Platz T, Kugler J. et al . Electromechanical and robot-assisted arm training for improving arm function and activities of daily living after stroke.  Cochrane Database Syst Rev. 2008;  CD006876
  • 4 Wagner T H, Lo A C, Peduzzi P. et al . An Economic Analysis of Robot-Assisted Therapy for Long-Term Upper-Limb Impairment after Stroke.  Stroke. 2011;  DOI: 10.1161 /STROKEAHA.110.606442
  • 5 Winter J, Hunter S, Sim J. et al . Hands-on therapy interventions for upper limb motor dysfunction following stroke.  Cochrane Database Syst Rev. 2011 CD006609
    >