physioscience 2011; 7(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-0031-1273389
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

A. Probst1
  • 1HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen
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Publication Date:
26 May 2011 (online)

In der vorliegenden Ausgabe lesen Sie den 2. Teil der 1. deutschlandweiten Befragung von Physio- und Ergotherapeuten zu ihrer Berufssituation bzw. ihrem Berufsalltag als Therapeuten. Aus diesem Anlass und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir in diesem Jahr auch auf 10 Jahre Professionalisierung durch Akademisierung in den Gesundheitsfachberufen zurückblicken können, ist mein Editorial als kleine Momentaufnahme der bisherigen Entwicklungen seit 2001 zu verstehen.

„Gut Ding will Weile haben”, weiß der Volksmund

Seit 6 Jahren gibt es nun die physioscience, die 1. deutschsprachige Fachzeitschrift für Physiotherapie, die für sich in Anspruch nimmt, den wissenschaftlichen Diskurs einer im Werden begriffenen Profession abzubilden. Man bedenke, einen Diskurs, der sich aus den eigenen Reihen, sprich deutschsprachigen Forschungsarbeiten speisen soll. Ein ambitioniertes Ziel und das ist gut so. Nun ist diese „Professionalisierungsstrecke” selbst noch jung. 10 Jahre ist die Entwicklung der Professionalisierung durch Akademisierung in Deutschland für die Gesundheitsfachberufe Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie erst alt. Wahrlich keine Zeit, wenn man sich vor Augen hält, dass eine „Vollprofessionalisierung” im Schnitt zwischen 40 und 60 Jahren dauert. Denkt man z. B. an die Physiotherapie in den USA, so sieht man, dass es vom ersten Bachelor Ende der 40er-Jahre des letzten Jahrtausends bis zur professionseigenen Promotion zum Doctor of Physical Therapy (in einigen Bundesstaaten der USA) bis 2003 dauerte. Die Promotion gehört jedoch dort bis heute nicht zum „Regelfall” der Profession, folgt man den auf der APTA-Homepage veröffentlichten Visionen für 2020 (www.apta.org).

Eine solche Zeitspanne braucht es wohl auch, wenn sich die Dinge von Grund auf entwickeln sollen. Wenn sich eine Profession also auf den Weg macht, dann braucht sie Zeit, den Weg zu sich selbst in neuer Form zu finden, Strukturen zu entwickeln und sich in einem neuen System (hier dem Hochschulsystem) zu fundieren. Zeit, sich neu und anders im gesundheitlichen Versorgungssystem zu positionieren und eben auch Zeit „Man- und Womanpower” heranzubilden, die Lust und Freude daran hat, neben ihrem eigenen beruflichen Karriereplan, die Profession als Ganzes in den Blick zu nehmen und sich für einen gemeinsamen Weg einzusetzen und dieser Professionalisierung eine Richtung zu geben.

Ein Blick auf die derzeitige Situation der Physiotherapie in Deutschland – nach 10 Jahren Bachelor, 6 Jahren Master und 6 Jahren physioscience – zeigt eher eine „durchgerüttelte” Profession. Akademische Strukturen können sich weniger ihrer Logik gemäß entwickeln, sondern allerorts werden Studiengänge aus der Taufe gehoben, akademische Titel vergeben, und es kann nicht schnell genug gehen mit der „Professionswerdung”. Bachelor, Master, Direct access, Forschen, Veröffentlichen (möglichst mit Impact factor), promovieren und ach, das Forschungsgeldereinwerben nicht zu vergessen. Ein bisschen hat das etwas von Mastbetrieben, die „Turbohühnchen” produzieren und schnelles Geld mit Studiengebühren und wilden Versprechen machen. Wie das mit den „Turbohühnchen” endet, wissen wir ja.

Wollen wir das? Können wir das wollen? Aus der Sicht mancher Berufsangehöriger ist der Wunsch nach schneller Veränderung nachvollziehbar. Zunächst hat man/frau eine zumeist teure Ausbildung absolviert, die oft die Eltern finanzierten. Dann wurde sich jahrelang fortgebildet und sich für eine gute gesundheitliche Versorgung der Patienten und „auf dem Laufenden gehalten” oder – wie es heute neudeutsch heißt – um eine evidenzbasierte Praxis bemüht. Da möchte man dann auch endlich einmal die Früchte dieser Mühen ernten!

Aus der Sicht einer Physiotherapeutin, die sich mit Professionalisierung und Theorieentwicklung in Professionen beschäftigt, ist eine solche Entwicklung allerdings nicht uneingeschränkt zu befürworten. Entwicklung braucht Zeit, das zeigt sich schon allein an der „Professionalisierungsstrecke” der Physiotherapie in Nordamerika. Warum sollte das für Europa bzw. die deutschsprachigen Länder, die sich in den letzten 10 Jahren auf den Weg gemacht haben, grundsätzlich anders sein? Weil sie an die Entwicklung der Vorreiter anknüpfen können, so ein häufig gehörtes Argument. Ja, so die Antwort, das gilt sicherlich für den Anschluss an bestehende Forschungsergebnisse bzw. Wissensbestände. Es gilt jedoch sicherlich nicht für die notwendige eigene Konstruktion professioneller Identität in der deutschsprachigen Physiotherapie unter veränderten Rahmenbedingungen. Diese braucht Zeit. die ich uns allen wünsche, denn „Gut Ding will Weile haben”!

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern der physioscience genug Zeit für eine angeregte Lektüre der vorliegenden Ausgabe.

Prof. Dr. Annette Probst

Vizepräsidentin Studium und Lehre, HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen

Hohnsen 4

31134 Hildesheim

Email: probst@hawk-hhg.de

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