ergopraxis 2010; 3(9): 10
DOI: 10.1055/s-0030-1265881
wissenschaft

Apoplex – Ehepaar erlebt sich nach einem kritischen Ereignis als Einheit

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Publication Date:
02 September 2010 (online)

 

Um die Folgen eines Apoplex zu kompensieren, stimmen sich der betroffene Klient und sein Ehepartner im Alltag vollständig aufeinander ab. Zu diesem Ergebnis gelangte die Ergotherapeutin Fenna van Nes in einer qualitativen Fallstudie an der Hogeschool Amsterdam, Niederlande.

Die Forscherin untersuchte anhand von Einzel- und Paarinterviews, wie sich die Alltagsbetätigung eines älteren Ehepaares drei Jahre nach dem zerebrovaskulären Insult der Ehefrau verändert hatte. Über einen Zeitraum von sieben Monaten führte sie bei dem Ehepaar 14 Hausbesuche durch, in deren Kontext sieben Einzel- und drei Paarinterviews stattfanden. Zusätzlich zu den mitgeschnittenen Interviews notierte sie ihre Eindrücke in einem Forschungstagebuch. Anschließend wertete sie die erhobenen Daten aus, indem sie sich an den Analyseschritten nach Molineux und Rickard orientierte und die Analysesoftware „Atlas-ti” einsetzte. Neben dem befragten Ehepaar überprüften auch externe Forscher die ausgewerteten Daten, um die Validität der Forschung sicherzustellen.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Alltagsbetätigung der beiden Ehepartner untrennbar ineinandergreift. Sie erleben sich als ein integriertes Ganzes, sozusagen als einen Körper mit drei Armen. Diese Co-Occupation prägt nicht nur das Durchführen von Alltagstätigkeiten, sondern auch das Wahrnehmen und den Umgang mit Raum und Zeit. Das Ergebnis stellt die gängige ergotherapeutische Praxis in Frage, in der sich Befunderhebung und Intervention ausschließlich auf den betroffenen Klienten konzentrieren. Die Forscherin fordert daher, die gemeinsame Alltagsbetätigung und -wahrnehmung von Lebenspartnern bzw. Familienmitgliedern stärker zu berücksichtigen.

fk

Kommentar

Diese Arbeit verdeutlicht das Potenzial eines qualitativen Studiendesigns. Es ermöglicht, komplexe Sachverhalte zu beleuchten und so neue Impulse für das ergotherapeutische Vorgehen zu liefern.

Ähnlich wie beispielsweise das Kawa-Modell stellt die Fallstudie bestehende konzeptionelle Annahmen der Ergotherapie in Frage. Wie die Ergebnisse zeigen, widerspricht die theoretische Trennung zwischen einem Individuum und seiner sozialen Umwelt mitunter der Erfahrungsrealität eines Menschen. Denn in der Fallstudie verschmilzt das Betätigungsverhalten der beiden Ehepartner zu einem neuen Ganzen – einer gemeinsamen Alltagsbetätigung, welche die erlebten Grenzen zwischen den Individuen (zumindest zeitweise) aufhebt.

Wenn Ergotherapeuten eine mögliche „Co-Occupation” von Lebenspartnern bzw. Familienmitgliedern berücksichtigen, lassen sich Therapieinhalte womöglich nachhaltiger auf den Alltag übertragen und in das bestehende Gewohnheitssystem integrieren. Dies erfordert allerdings Assessments und Interventionen, die das gemeinsame Betätigungsverhalten bzw. Alltagserleben von Klient und Angehörigem systematisch in den ergotherapeutischen Prozess einbeziehen.

Florence Kranz, Ergotherapeutin bc (NL)

ergoscience 2010; 5: 74–77

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