ergopraxis 2008; 01(7/08): 15
DOI: 10.1055/s-0030-1261252
wissenschaft

Soziale Umwelt – Begreifen des Familiengefüges ermöglicht Empathie

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Publication Date:
07 July 2010 (online)

 

Umfangreiche familiäre Netzwerke und Traditionen stehen bei der Kindererziehung des Indianerstamms der Lillooet in einem engen Zusammenhang. Das Naturvolk sieht sie als wichtige Ressource in der Betreuung von Kindern mit Behinderung. Im Auftrag der San Jose State University, USA, interviewte die Ergotherapeutin Alison Gerlach fünf betroffene Familien zu deren Umgang mit der Behinderung ihrer Kinder. Drei Kinder hatten ein Down-Syndrom, eines das Williams-Beuren-Syndrom und eines eine geistige Behinderung. Innerhalb ihrer qualitativen Studie befragte die Forscherin die Angehörigen mithilfe eines Leitfadens. Sie fasste deren Antworten unter den beiden Kategorien „Familie” und „Kindererziehung” zusammen. Unter „Familie” ordnete sie Angaben der Teilnehmer über das unterstützende Netzwerk, generationenübergreifendes Lernen und den Einfluss des örtlichen Schulsystems ein. Bei der „Kindererziehung” trägt eine ganze Gruppe die Verantwortung, da der Indianerstamm Entscheidungen gemeinsam trifft. Die Kinder lernen beispielsweise hauptsächlich von den Großeltern, indem sie diese bei verschiedenen Aktivitäten, wie Mokassins oder Körbe herstellen, beobachten. Als Problem sehen die Lillooet das örtliche Schulsystem. Es habe viele ihrer Traditionen und Bräuche verboten und bestraft, sodass sie diese jetzt nur noch ansatzweise weitergeben könnten. Die Forscherin, welche zu den Studienteilnehmern langjährige Kontakte gepflegt hatte, betont, dass es für Ergotherapeuten wichtig sei, das Familiengefüge, in dem sie arbeiten, zu verstehen und Aktivitäten, die für diese Familien von Bedeutung sind, zu kennen. Das Verständnis dafür ermöglicht mehr Empathie und Begreifen der Herausforderungen, mit denen sich die betroffenen Familien konfrontiert sehen.

Chpr

Kommentar

Obwohl die Studie der Ergotherapeutin Alison Gerlach eine geringe Teilnehmerzahl beinhaltet und sich nur auf die Kultur der Lillooet bezieht, unterstützt sie die ganzheitliche Sichtweise innerhalb der ergotherapeutischen Modelle, Konzepte und der ICF. Meines Erachtens ist das Einbeziehen des Umfelds in den Therapieprozess von großer Bedeutung, weil es zum Therapieerfolg und zur Klienten- bzw. Angehörigenzufriedenheit beiträgt. Dennoch lässt sich die Theorie nicht immer nach Wunsch umsetzen. Als große Herausforderung empfinde ich die Arbeit mit Familien aus anderen Kulturkreisen. Selbst wenn sich die Therapeutin um Empathie und Verständnis für kulturelle oder familiäre Hintergründe bemüht, gelingt die Zusammenarbeit nicht immer. Die Erfahrung sowie die Schlussfolgerung von Alison Gerlach zeigen jedoch, dass die Therapie bei intensivem Einbeziehen des Umfelds deutlich effektiver ist.

Christine Priß, Ergotherapeutin BSc.

CJOT 2008; 75: 18–25

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