Aktuelle Neurologie 2010; 37(3): 119
DOI: 10.1055/s-0030-1248425
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schon wieder eine neue Klassifikation und Nomenklatur epileptischer Anfälle und Epilepsien?

What, Another New Classification and Nomenclature for Epileptic Seizures and Epilepsies?G.  Krämer1
  • 1Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Zürich
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Publication Date:
13 April 2010 (online)

Dr. med. Günter Krämer

Ich weiß aus vielen Vorlesungen, Fort- und Weiterbildungsvorträgen sowie auch Patientenkontakten, dass nicht nur vielen Laien, sondern auch vielen Kolleginnen und Kollegen die seit 1981 bzw. 1989 gültigen Klassifikationen von epileptischen Anfällen [1] sowie von Epilepsien und epileptischen Syndrome [2] und die darauf beruhende Nomenklatur nicht allzu verständlich ist. Nicht nur Chirurgen haben Probleme mit der Zuordnung einer „kryptogenen Epilepsie mit komplex-fokalen Anfällen”, und wieso wird in der Epileptologie im Gegensatz zum sonstigen medizinischen Sprachgebrauch bei idiopathischen Erkrankungen eine genetische Ursache postuliert? Vielleicht ist dieses begrenzte Verständnis auch mit dafür verantwortlich, dass es in vielen Arztbriefen bei wenig differenzierten Diagnosen wie „Epilepsie” oder „zerebrales Anfallsleiden” bleibt.

Nach verschiedenen, mehrheitlich in dieser Zeitschrift auch in deutscher Übersetzung vorgestellten Vorarbeiten der letzten Jahre [3] [4] [5] [6] werden nun von der Klassifikations- und Terminologiekommission der Internationalen Liga gegen Epilepsie eine revidierte Terminologie und neue Konzepte zur Einteilung von epileptischen Anfällen und Epilepsien vorgelegt [7]. „Idiopathisch” wird zu „genetisch”, „symptomatisch” zu „strukturell–metabolisch” und „kryptogen” zu „unbekannt”. Das für Epilepsien im Kindes- und Jugendalter weit verbreitete Konzept „benigner” Epilepsien wird auf die gute Behandelbarkeit der epileptischen Anfälle beschränkt („selbst-limitierend”) und lässt Raum für die Möglichkeit persistierender kognitiver oder Verhaltensstörungen. Die primäre Unterscheidung fokaler Anfälle in „einfache” und „komplexe” in Abhängigkeit vom Fehlen oder Vorhandensein einer begleitenden Bewusstseinsstörung wird zugunsten anderer Unterscheidungsmerkmale ebenso wie die Dichotomie der Epilepsien und Epilepsiesyndrome in fokal versus generalisiert, also diejenige in „die fokalen und generalisierten Epilepsien”, fallengelassen. Im Vergleich zu früheren Vorschlägen werden die Begriffe „elektroklinisches Syndrom” und „konvulsiv” wieder akzeptiert und das Konzept epileptischer Enzephalopathien auch für das Erwachsenenalter betont.

Ob manche jetzt propagierte Termini wie z. B. „dyskognitiv” für Anfälle mit Bewusstseinsstörung sich durchsetzen werden oder nicht, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Hier könnte es auch einmal nützlich sein, über Vorschläge unserer epileptologischen Vorväter wie beispielsweise den Begriff „psycholeptisch” des französischen Philosophen, Psychiaters und Psychotherapeuten Pierre Janet [8] [9] nachzudenken. Ich befürchte auch, dass es – zumindest außerhalb der Epileptologie – eher bei einem frommen Wunsch bleiben wird, griffige Termini wie „symptomatische Temporallappenepilepsie” durch Bezeichnungen wie „Epilepsie mit fokalen Anfällen aufgrund einer fokalen kortikalen Dysplasie im Temporallappen” zu ersetzen.

Fazit: Der hier vorgestellte Text räumt mit einigen Unklarheiten der bislang gültigen Klassifikationen und Nomenklatur auf. Dass auch diese neue Klassifikation noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist und laufend an neue Erkenntnisse angepasst werden muss, wird von den Autoren selbst ausdrücklich betont.

Literatur

  • 1 Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy . Proposal for revised clinical and electrographic classification of epileptic seizures.  Epilepsia. 1981;  22 489-501
  • 2 Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy . Proposal for revised classification of epilepsies and epileptic syndromes.  Epilepsia. 1989;  30 389-399
  • 3 Engel Jr J. A proposed diagnostic scheme for people with epileptic seizures and with epilepsy: Report of the ILAE Task Force on Classification and Terminology.  Epilepsia. 2001;  42 796-803 , autorisierte deutsche Übersetzung (G. Krämer): Engel J. Vorschlag für ein diagnostisches Schema für Menschen mit epileptischen Anfällen und Epilepsien. Bericht der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) zur Klassifikation und Terminologie. Akt Neurol 2001; 28: 305–312
  • 4 Engel Jr J, Andermann F, Avanzini G. et al . Report of the ILAE Classification Core Group.  Epilepsia. 2006;  47 1558-1568 , autorisierte deutsche Übersetzung (G. Krämer): Engel J Jr, Andermann F, Avanzini G, et al. Bericht der Klassifikations-Kerngruppe der Internationalen Liga gegen Epilepsie. Akt Neurol 2006; 33: 442–452
  • 5 Fisher R S, Emde Boas W von, Blume W. et al . Epileptic seizures and epilepsy: definitions proposed by the International League Against Epilepsy (ILAE) and the International Bureau for Epilepsy (IBE).  Epilepsia. 2005;  46 470-472
  • 6 Blume W T, Lüders H O, Mizrahi E. et al . Glossary of descriptive terminology for ictal semiology: Report of the ILAE Task Force on Classification and Terminology.  Epilepsia. 2001;  42 1212-1218 , autorisierte deutsche Übersetzung (G. Krämer): Blume WT, Lüders HO, Mizrahi E, et al. Glossar einer deskriptiven Terminologie für die iktale Semiologie. Bericht der Task Force der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) zur Klassifikation und Terminologie. Akt Neurol 2001; 28: 448–454
  • 7 Berg A T, Berkovic S F, Brodie M. et al . Revidierte Terminologie und Konzepte zur Einteilung von epileptischen Anfällen und Epilepsien: Bericht der Klassifikations- und Terminologiekommission der Internationalen Liga gegen Epilepsie, 2005–2009.  Akt Neurol. 2010;  37 120-130
  • 8 Janet P. Les Obsessions et la Psychasthénie. Paris; F. Alcan 1903
  • 9 Janet P. Psycholeptic crises.  Boston Med Surg J. 1905;  152 93-100

Dr. med. G. Krämer

Schweizerisches Epilepsie-Zentrum

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8008 Zürich, Schweiz

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