Aktuelle Neurologie 2009; 36 - P719
DOI: 10.1055/s-0029-1238812

Koinzidenz von chronisch-demyelinisierender Polyneuropathie und amyotropher Lateralsklerose

J Prudlo 1, S Vogelgesang 1, J Pahnke 1, U Zettl 1, R Benecke 1
  • 1Rostock, Greifswald

Das Zusammentreffen einer erworbenen chronisch-demyelinisierenden Polyneuropathie und einer Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist nur selten beschrieben worden (Echaniz-Laguna et al. 2006, Rajabally and Jacob 2008). Im Gegensatz zur CIDP zeigt die Neuropathie histopathologisch keine Immunreaktion und spricht nicht auf Immuntherapien an. Im Folgenden soll anhand eines Fallbeispiels auf die möglicherweise nicht nur zufällige Koinzidenz hingewiesen werden.

Der 75Jährige erkrankte sieben Jahre zuvor (2002) mit strumpfförmig aufsteigenden Sensibilitätsstörungen und Schmerzen des Schultergürtels und der Arme, gefolgt von einem rein motorischen, asymmetrischen, proximal-, arm- und rechtsbetonten schlaffen Tetrasyndrom. Das Fortschreiten verlief unregelmäßig mit schubartiger Verschlechterung im Jahr 2005. Die funktionelle Beeinträchtigung ist seither erheblich (gefüttert werden, gekämmt werden, nicht mehr frei stehfähig) und schreitet voran. Seit 2005 entwickelt sich ein bulbäres Syndrom, seit 2007 eine respiratorische Insuffizienz mit Orthopnoe und Indikation zur nicht-invasiven Beatmung voraussichtlich noch 2009. Die Muskeleigenreflexe sind erloschen oder abgeschwächt, lediglich der PSR mittellebhaft, seitengleich auslösbar. Schädigungszeichen des oberen Motoneurons fehlen. Die Neurografie ergibt Hinweise auf eine sensomotorische demyelinisierende Neuropathie ohne Nachweis von Leitungsblöcken. Elektroneurographisch sind die CIDP-Kriterien erfüllt. Der Liquor wies wiederholt eine zytoalbuminäre Dissoziation auf. Das Suralisbiopsat zeigte 2005 eine schwere segmentale Demyelinisierung, jedoch keine zelluläre oder humorale Immunreaktion.

Das polyneuropathische Syndrom erinnert an eine Multifokale erworbene demyelinisierende sensomotorische Neuropathie (MADSAM, Lewis-Sumner), spricht jedoch nicht auf Glukokortikosteroide oder intravenöse Immunglobuline an. Der bulbäre Befall und die Atempumpenschwäche deuten auf den Übergang in ein Unteres Motoneuron-Syndrom hin, i.S. einer Progressiven Muskelatrophie (ALS-Variante). ALS und demyelinisierende Neuropathie gehören nach bisherigem Verständnis nicht zusammen. Inwieweit ihr Aufeinandertreffen zufälliger Natur ist oder in einem kausalen Zusammenhang steht, bedarf weiterführender Untersuchungen. Die Koinzidenz beschreibt gegenwärtig ein diagnostisches und therapeutisches Dilemma.