Notfall & Hausarztmedizin 2009; 35(1): 13
DOI: 10.1055/s-0029-1202925
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychosomatik in der Hausarztpraxis

Peter Maisel
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Publication Date:
10 February 2009 (online)

Der hohe Anteil psychosozialer Krankheitsursachen, aber auch Krankheitsfolgen ist in der Hausarztpraxis unübersehbar. Für einige spezielle Versorgungsaufgaben fehlt es aber noch an wissenschaftlichen Daten (z. B. geschlechtsspezifische Erkrankungsunterschiede) oder dem notwendigen Betreuungsumfeld (z. B. Migrantenbetreuung). Die psychosomatische Grundversorgung bietet jedem Hausarzt ab dem 1.1.2009 die Chance, dass sein umfassender bio-psychosozialer Versorgungsauftrag wenigstens ansatzweise finanziell gewürdigt wird. Dieses Heft der Notfall & Hausarztmedizin widmet sich deshalb schwerpunktmäßig der Psychosomatik.

Obwohl die Leib-Seele-Frage ein zentrales Thema der Philosophie- und Medizingeschichte ist, hat die stark naturwissenschaftlich orientierte Medizin des letzten Jahrhunderts den Fokus der Forschung und Krankenbetreuung zu sehr auf das Mess- und Zählbare in der Medizin gerichtet. Alexander Mitscherlich beklagt vor 40 Jahren in seinen Studien zur psychosomatischen Medizin: „... kaum nennenswerte Forschung geschieht in der Absicht, die Erlebnisbedingungen zu erkennen, die dann schließlich einen auch durch Messung nachweisbaren Krankheitsprozess in Gang setzen“ [1].

Um „nichts Ernstes“ (auf der somatischen Ebene) zu übersehen, werden psychische Erkrankungen leider immer noch erst nach Ausschluss organischer Störungen diagnostiziert – wenn der Somatisierungsprozess des Patienten bereits schwierig umzukehren ist. Es gilt, vom Nacheinander in der Diagnostik zum zeitgleichen Nebeneinander, ja Miteinander zu kommen. Die gerade publizierte Untersuchung zur Assoziation von Herzinfarkten und Panikattacken [2] unterstreicht die Notwendigkeit eines bio-psychosozialen Ansatzes in der Medizin.

Zur Prävalenz psychischer Erkrankungen im Lichte der Gender Medizin betonen B. Winklbaur, N. Ebner und G. Fischer aufgrund zahlreicher epidemiologischer Untersuchungen: Frauen weisen häufiger Angststörungen, somatoforme Störungen und Depressionen auf als Männer. Schizophrene Erkrankungen sind ungefähr gleich verteilt zwischen den Geschlechtern. Substanzmissbrauch und -abhängigkeit betreffen zu zwei Dritteln Männer. Gleichzeitig beklagen sie aber auch, dass der Mangel an evidenzbasierten Untersuchungsdesigns exakte Analysen und Schlussfolgerungen unterbinde [3].

Eine fragebogengestützte (PHQ-D) – allerdings nicht repräsentative – Untersuchung an 1 130 Studierenden bestätigt die überproportionale Häufung affektiver und somatoformer Störungen bei Frauen sowie die wesentlich höhere Rate an Alkoholmissbrauch unter den männlichen Studierenden [4]. Das Ergebnis sollte Hochschulen, Hochschullehrer und Ärzte aufrütteln, diese zukünftige Elite unseres Staates intensiver zu betreuen.

Für die Versorgung von psychisch oder psychosomatisch erkrankten Migranten und Patienten mit Migrationshintergrund bestehen noch ausgeprägte Versorgungsbarrieren [5]. Die „12 Sonnenberger Leitlinien“ formulieren den Anspruch an eine verbesserte transkulturelle Versorgung seelisch kranker Migranten [6]. Für den Hausarzt sind hier insbesondere der Einsatz von Fachdolmetschern, die Bildung von Netzwerken mit Spezialisten für migrationsspezifische Fragen sowie die rechtzeitige Kinder- und Familienberatung wichtig.

Nicht nur der kundige Arzt, sondern die Praxisstruktur und das ganze Praxisteam sichern eine gute hausärztliche Arbeit bei der Betreuung psychisch und psychosomatisch Erkrankter. Wertvolle Tipps dazu gibt der „WHO Guide to Mental and Neurological Health in Primary Care“, ein praxisnahes Online-Kurzlehrbuch [7]: Anweisungen für das Praxispersonal zum Umgang mit psychisch Kranken, chronic-care-Betreuungsmanagement, Informationsmaterial für Patienten, aber auch Stressabbautraining und psychologische Unterstützung für das Praxisteam sind einige der hilfreichen Empfehlungen für eine umfassende Betreuung. Auch bei der Behandlung psychisch und psychosomatisch Kranker ist eine (Praxis-)Kette nur so stark wie das schwächste Glied. Die Kompetenz des Hausarztes zu stärken ist Ziel der heutigen Fachbeiträge.

Literatur

  • 1 Mitscherlich A.. Krankheit als Konflikt. Aufl., Frankfurt 1966
  • 2 Walters K. et al. . European Heart Journal. 2008;  29 2981-2988
  • 3 Winklbaur B. et al. .Psychiatrie. In: Rieder A, Lohff B (Hrsg.) Gender Medizin. 2. Aufl., Wien 2008
  • 4 Bailer J. et al. . Psychother Psych Med. 2008;  58 423-429
  • 5 Lindert J. et al. . Psychother Psych Med. 2008;  58 123-129
  • 6 www.psychiatrie.de/data/downloads/3b/00/00/Beitrag_Machleidt.pdf
  • 7 www.mentalneurologicalprimarycare.org, konkret: www.mentalneurologicalprimarycare.org/downloads/primary_care/Mental_ %20health_in_your_practice.pdf

Dr. med. Peter Maisel

Münster

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