physioscience 2009; 5(4): 141-142
DOI: 10.1055/s-0028-1109891
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie werden Forschungsresultate in die Praxis umgesetzt?

K. Niedermann1
  • 1Rheumaklinik und Institut für Physikalische Medizin, UniversitätsSpital Zürich
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Publication Date:
23 November 2009 (online)

Die Zeitschrift physioscience publiziert seit nunmehr 5 Jahren Physiotherapieforschung, vornehmlich aus dem deutschsprachigen Raum. In der Physiotherapy Evidence Database (PEDro) (www.pedro.org.au) standen am 9.10.2009 15 427 Einträge. Eine weitere, vermutlich größere Anzahl physiotherapiespezifischer Forschungsresultate ist in nationalen und internationalen medizinischen Fachjournals publiziert; exemplarisch seien die Disziplinen Rehabilitation, Rheumatologie, Onkologie oder Geriatrie genannt. Daran partizipierten in den letzten 10 Jahren zunehmend und erfolgreich auch forschende Physiotherapeuten aus Deutschland und der Schweiz.

Das ist sehr erfreulich. Aber was passiert mit all den veröffentlichten Forschungsresultaten? Werden diese in die Praxis umgesetzt oder mehrheitlich nur gelesen und anschließend vergessen?

Evidence-based practice (EBP) ist die Integration von Best research evidence mit klinischer Erfahrung und Umweltbedingungen (strukturelle Gegebenheiten, Ressourcen). Es herrscht großer Konsens unter allen an der Gesundheitsversorgung Beteiligten, dass sich die medizinischen und therapeutischen Interventionen weiterentwickeln (sollen) und die aktuellen Behandlungen weiter verbessert werden können, d. h. effektiver, effizienter, sicherer und individualisierter werden. Neue Evidenz für bessere, wirksamere und angepasstere Konzepte und Methoden muss in der klinischen Praxis implementiert werden und so dazu beitragen, bisherige diagnostische und therapeutische Interventionen zu verbessern oder zu ersetzen. Die vorhandene Evidenz zugunsten – oder zuungunsten – der untersuchten Methoden und daraus abgeleitete Empfehlungen sollten den Weg zur Zielgruppe finden, in unserem Fall den klinisch tätigen Physiotherapeuten.

Eine Querschnittstudie zur aktuellen Praxis der Physiotherapie [3] zeigte auf, dass rund 70 % der befragten (australischen) Physiotherapeuten angaben, mindestens 1-mal pro Monat Fachliteratur zu lesen, aber nur 10,6 % sagten aus, sie suchten häufig in PEDro, für Cochrane und Medline/Cinahl lagen diese Quoten bei 15,3 % bzw. 26,6 %. Junge Berufskollegen schätzten ihre evidenzbasierte Praxis höher ein als erfahrene. Die Einschätzungen von Physiotherapeuten in Krankenhäusern oder Praxen unterschieden sich nicht in Bezug auf ihre Fertigkeit, evidenzbasiert zu arbeiten und deren Häufigkeit. Zugang zu Literatur zu haben und die Fähigkeit, das Gelesene kritisch zu beurteilen, sind nicht zu vernachlässigende Hindernisse. Eine wichtige und effiziente Hilfe für klinisch Tätige sind sogenannte Critically Appraised Topics (CAT), zusammengefasste und kommentierte Studien (siehe gelesen und kommentiert, S. 185 – 186). Dabei werden auch die Qualität der beurteilten Studie und die Stärke der Evidenz berücksichtigt. Ein systematischer Review hat mehr Gewicht als eine methodologisch gute, randomisierte Studie, und Letztere mehr als eine Kohorten- oder Einzelfallstudie.

Schätzungsweise 30 – 40 % der Patienten erhalten im Allgemeinen nicht die gemäß neuestem Wissen und Methoden optimale medizinische Behandlung [1]. Es muss angenommen werden, dass diese Rate sich auch auf die Physiotherapie übertragen lässt. Diese beeindruckend hohe Quote belegt vor allem eins: die Implementierung von Forschungsresultaten und Evidenz in die Praxis geht nicht „von allein”, sondern braucht eine klare Strategie und entsprechende Maßnahmen [2]. Die Implementierung von Forschungsresultaten muss ein ebenso systematischer und gut geplanter Prozess sein wie ein Forschungsprojekt selbst. Implementationsforschung formuliert klare Ziele für „gute Behandlungsqualität” (Good quality care, GQC) und analysiert in einem 1. Schritt die klinische Praxis anhand von definierten und konkreten Indikatoren. In einem Protokoll werden auf der Analyse und den Zielen basierend Design, Methoden und Messinstrumente beschrieben. Der Erfolg der Implementierung wird nach ihrer Durchführung evaluiert.

Bei der Analyse der Praxis ist insbesondere auch die Evaluation von Barrieren für die Implementierung neuer Vorgehensweisen wichtig. Auch in der Physiotherapie wurden nebst Mangel an Zugang zu Informationen und Wissen Zeitmangel und Probleme mit der Veränderung etablierter Prozesse und fehlende finanzielle Entschädigung für den mit der Implementierung verbundenen Aufwand wiederholt als Barrieren identifiziert [2] [4] [5]. Diese Barrieren tragen nicht nur in der Physiotherapie dazu bei, dass neue Erkenntnisse oft ungenügend umgesetzt werden.

Es gibt viele verschiedene Zugänge, um die Implementierung zu fördern, und keiner ist grundsätzlich überlegen. Die Wahl hängt auch von den Präferenzen der Disziplinen und Interessenvertretern ab. Für klinisch tätige Health Professionals steht eine gute Aus- und Weiterbildung im Mittelpunkt. Sie streben einen Konsens in der Berufsgruppe an, z. B. die Definition des State of the Art mittels Behandlungsrichtlinien. Der Managementzugang fokussiert auf Prozessabläufen, um für organisatorische Abläufe zu sorgen, welche eine optimale Behandlung ermöglichen. Politik und Kostenträger streben eine Steuerung über Budgets an. Patientenvertreter möchten über mehr Patienten-Empowerment die Implementierung neuer Maßnahmen fördern. Diesen verschiedenen Strategien liegen implizite Annahmen über menschliches Verhalten und das Funktionieren von Gruppen und Organisationen zugrunde.

Auf der individuellen Ebene ist für die Implementierung von neuer Evidenz eine Verhaltensänderung der Anwender nötig. Dafür kann im Prinzip auf die gleichen Lerntheorien und gesundheitspsychologischen Modelle wie in der Patient Education zurückgegriffen werden, bei der Einstellungsveränderungen, die Unterstützung der Motivation und der Selbstwirksamkeit sowie Peers eine große Rolle spielen. Sogenannte Early Adopters, d. h. Physiotherapeuten, die Neuerungen positiv gegenüberstehen und rasch in die Praxis umsetzen, können als wichtige Vorbilder dienen. Mit solchen Peers können sich weitere Berufskollegen vergleichen und identifizieren, was wiederum ihre Motivation und ihr Vertrauen in ihre Fähigkeit verstärkt, Neues anzuwenden.

Auf der Managementebene sind möglicherweise Anpassungen in Organisation und Prozessen nötig, um diese Veränderung auf der individuellen Ebene zu unterstützen oder überhaupt erst zu ermöglichen.

Die Forschenden haben zu einem guten Teil die Verantwortung für die Umsetzung von Forschungsresultaten. Der Schweizerische Nationalfonds z. B. verlangt, dass Forschungsprojekte im Rahmen ihrer Forschungsprogramme auch Implementierungsmaßnahmen beinhalten.

Für eine erfolgreiche Implementierung ist die Zusammenarbeit zwischen Forschenden, Klinikern und Managern (Cheftherapeuten) unabdingbar. Das setzt von allen Seiten Offenheit und den Willen zur Kooperation voraus. Forschung darf nicht Selbstzweck sein, während die Praxis zum Überdenken und zur permanenten Erneuerung ihrer aktuellen Methoden und Interventionen bereit sein muss.

Erst gemeinsam festgelegte Implementierungsstrategien sorgen für die viel beschworene Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Praxis.

Literatur

  • 1 Grol R, Wensing M, Eccles M. Improving Patient Care. The implementation of change in clinical practice. Edinburgh; Elsevier 2005
  • 2 Harting J, Rutten G M, Rutten S T. et al . A qualitative application of the diffusion of innovations theory to examine determinants of guideline adherence among physical therapists.  Phys Ther. 2009;  89 221-232
  • 3 Iles R, Davidson M. Evidence based practice: a survey of physiotherapists’ current practice.  Physiother Res Int. 2006;  11 93-103
  • 4 Niedermann K, Fransen J, Huber E. et al . Einstellungen und Arbeitsweise von PhysiotherapeutInnen – Begleitevaluation zum Outcome-Projekt 2000 – 2001.  FISIOactive (J of Swiss PT association). 2002;  7 4-13
  • 5 Pollock A S, Legg L, Langhorne P. et al . Barriers to achieving evidence-based stroke rehabilitation.  Clin Rehabil. 2000;  14 611-617

Karin Niedermann

Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Gesundheit

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8401 Winterthur

Schweiz

Email: karin.niedermann@zhaw.ch

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