Aktuelle Neurologie 2008; 35 - V119
DOI: 10.1055/s-0028-1086528

Sensorisches Gedächtnis bei M. Huntington, oder sind kognitive Funktionen in späten neurodegenerativen Stadien per se defizitär?

C Beste 1, C Saft 1, J Andrich 1, R Gold 1, M Falkenstein 1
  • 1Dortmund, Bochum

Fragestellung: M. Huntington geht mit weitreichenden neurodegenerativen Veränderungen kortikaler und subkortikaler Strukturen einher. Ein diskutierter pathogener Mechanismus bei HD ist Exzitotoxizität, welche durch eine erhöhte Sensitivität des Glutamatrezeptorsystems (NMDA-Rezeptorsystems) zustande kommt. Dieses Rezeptorsystem ist entscheidend für verschiedene kognitive Funktionen. So hängen insbesondere Prozesse des sensorischen Gedächtnisses spezifisch von diesem System ab. Aufgrund der erhöhten Aktivität dieses Systems könnte es zu einer Verbesserung dieser kognitiven Leistung kommen. Dies würde im scharfen Kontrast zur Annahme stehen, dass kognitive Prozesse zwangsläufig in späten neurodegenerativen Stadien defizitär sind.

Methoden: Mittels ereigniskorrelierter Potentiale (EKPs) wurden neurophysiologische Korrelate des sensorischen Gedächtnisses (MMN) und der Reorientierung von Aufmerksamkeit (RON) bei Patienten mit symptomatischem (HD) (N=13), präsymptomatischem (pHD) (N=13) M. Huntington und gesunden Kontrollen (KG) (N=12) untersucht. Alle Patienten waren frei von Medikation.

Ergebnisse: Die Verhaltensdaten zeigen geringere Fehlerraten (HD: 7,38±0,78; pHD: 12,82±0,77; KG: 13,22±0,81) (F(2,35)=16,88; p < .001) und schnellere Reaktionszeiten (HD: 508ms±12; pHD: 645ms±13; KG: 638ms±13) (F(2,35)=35,01; p < .001) in der HD-Gruppe, verglichen mit pHDs und KGs. Bei den neurophysiologischen Daten zeigte sich eine stärkere der MMN-Amplitude (HD: -7,44±0,59; pHD: -5,10±0,61; KG: -5,14±0,59), sowie verkürzte Latenzen (HD: 127ms±4; pHD: 157ms±5; KG: 164ms±5) in der HD-Gruppe, verglichen mit pHDs und KGs. Auch bei der RON zeigten sich stärkere Amplituden (HD: -5,83±0,36; pHD: -3,01±0,35; KG: -3,04±0,37) in der HD-Gruppe, verglichen mit pHDs und KGs.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen (am Beispiel des M. Huntington), dass kognitive Funktionen nicht ursächlich in späten Stadien neurodegenerativer Erkrankungen defizitär sein müssen, sondern es selektiv in späten Stadien zu einer Verbesserung in diesen kognitiven Funktionen kommen kann. Dies hängt von der Spezifität der kognitiven Funktion und davon ab, wie das betreffende neuronale System durch pathogene Prozesse moduliert wird. Die Tatsache, dass nur die symptomatische Gruppe einer Erhöhung zeigte, jedoch nicht die präsymptomatische Gruppe, deutet darauf hin, dass unterschiedliche pathogene Mechanismen in den einzelnen Stadien von HD auftreten und Exzitotoxizität erst spät eine Rolle spielt.