Ernährung & Medizin 2025; 40(02): 57-58
DOI: 10.1055/a-2523-3462
Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser, …

Karlheinz Schmidt
,
Manfred Eggersdorfer

Wissen wir, was gesunde Ernährung ist?

Selbstverständlich wissen wir das, werden Sie sagen, denn wir haben ja massenhaft Daten aus Tausenden epidemiologischer Studien, in denen die beteiligten Menschen über Tage, Wochen oder Monate einerseits in Tagebüchern oder Fragebögen aufschrieben, was sie essen, und man andererseits ihren Gesundheitszustand aktuell oder über längere Zeiträume untersucht hat. Daten aus großen Studien mit sehr vielen Teilnehmern und einer langen Laufzeit, die von erfahrenen Wissenschaftsteams und anerkannten Institutionen meist mit großem finanziellem Aufwand durchgeführt wurden, misst man dabei in aller Regel eine hohe Aussagekraft und Qualität zu. Als Beispiele seien der U.S. National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES), der UK National Diet and Nutrition Survey (NDNS) oder die Nationale Verzehrsstudie II (NVS II) in Deutschland genannt.

Diese positive Sichtweise und Aussagekraft wird allerdings seit Langem von einem Teil der Experten – auch solchen, die epidemiologische Studien durchgeführt haben – nicht geteilt. Die Angaben aus Fragebögen bergen ein Risiko eines Unter- und Überreportings. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die in Tagebüchern und Fragebögen mitgeteilten täglichen Verzehrsmengen kalorisch oftmals nicht einmal ausreichen würden, um ein Überleben sicherzustellen. Zwar werden in Studien hierfür gewisse Korrekturen vorgesehen. Damit lässt sich jedoch das Grundproblem ungenauer, falscher und meist zu niedriger Verzehrsangaben nicht beheben. Somit sind auch die aus der Interpretation dieser Daten erhobenen Schlussfolgerungen zum Wert von verschiedenen Diäten für die Gesundheit zumindest in Teilen zweifelhaft.

Leider hat es bisher an wissenschaftlichen Methoden gefehlt, diesen schwerwiegenden Bias zu quantifizieren. Interessant fanden wir daher in diesem Zusammenhang eine Publikation, die mit einer neuen Technologie Klarheit zu schaffen verspricht. In der Publikation mit dem Titel „Predictive equation derived from 6497 doubly labelled water measurements enables the detection of erroneous self-reported energy intake“ in der Zeitschrift Nature Food (2025; 6: 58–71) beschreiben Bajunaid R et al. eine neue Methode und deren Anwendung zur Anpassung von Daten aus Fragebögen in epidemiologischen Studien.

Auf der Basis von doppelt markiertem Wasser wurde in dieser Studie an mehr als 6000 Probanden eine Formel entwickelt, mit deren Hilfe sich die aufgewendete Stoffwechselenergie, nach Alter, Geschlecht und Körpergewicht gestaffelt, exakt quantifizieren lässt. Bei Anwendung dieser neuen prädiktiven Berechnungsgrundlage auf Tausende der in NHANES oder NDNS publizierte Datensets ergeben sich insbesondere für die Makronährstoffe deutliche Diskrepanzen: Die dort angegebenen Verzehrsmengen liegen bis zu 60% unter den durch die Formel berechneten Erwartungswerten.

Was bedeuten die Ergebnisse der Studie für die Ernährungsempfehlungen? Dieses Ergebnis hat im Bereich der Ernährungsmedizin zu einem Aufschrei und einer Vielzahl von Reaktionen der Fachwelt geführt! Beispielsweise fordern die Autoren in einer Publikation in Science (2025; 387: 352) unter dem Titel „Misreported meals skew nutrition research data“ ein neues Vorgehen bei Ernährungsstudien. Die Reaktionen gehen teilweise so weit, epidemiologische Großstudien zur Aufklärung der Beziehungen zwischen Ernährung und Gesundheit auf der Basis von Tagebüchern und Fragebögen nicht mehr mit den bislang genutzten Auswertungen durchzuführen. Die Empfehlung ist vielmehr, bei neuen Studien zu Ernährung und Gesundheit sich nicht nur auf Datensätze aus epidemiologischen Großstudien, wie beispielsweise NHANES oder NDNS zu beziehen, sondern die in der Nature Food Studie publizierte Formel anzuwenden. Es wird auch angeregt, für besondere Personengruppen, wie z. B. Schwangere oder Leistungssportler, modifizierte Formeln zu erarbeiten.

Warum führen wir in unserem Editorial diesen Meinungsstreit an? Es scheint, als würde durch die Ergebnisse dieser Studie ein gewisser Paradigmenwechsel in der Fundierung der wissenschaftlichen Grundlagen der Ernährungsepidemiologie eintreten. Nicht zu übersehen ist dabei insgesamt die Tatsache, dass es vielfältiger neuer Forschungsansätze bedarf, um die Frage „Was ist gesunde Ernährung?“ umfassend und zufriedenstellend zu beantworten. Wichtig dabei erscheint, Fragebogenerhebungen durch Status-Messungen zu ergänzen. Gemessene Daten, z. B. Status von Vitamin D als 25-Hydroxy-Vitamin D oder Omega-3-Fettsäuren im Plasma können als Biomarker dienen und darauf Empfehlungen zum Bedarf beziehungsweise Beitrag von Nahrungsmitteln und Diäten abgeleitet werden.

Der Trend zu personalisierter Ernährung kann auf diesen neuen Technologien mit der Messung von Biomarkern aufbauen und eine große Unterstützung für den einzelnen Menschen bei der Auswahl der Diät, aber auch für die Forschung zu Ernährung und Gesundheit werden. Im vorliegenden Heft unserer Ernährung & Medizin wird daher diesem Ansatz in verschiedenen Beiträgen intensiv nachgegangen.

Karlheinz Schmidt und Manfred Eggersdorfer



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Article published online:
17 June 2025

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