Gesundheitswesen 2006; 68(11): 661-666
DOI: 10.1055/s-2006-927264
Festvortrag

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ohne Vertrauen heilen? Von der Notwendigkeit und Schwierigkeit gegenseitigen Vertrauens in der Medizin

Healing without Confidence? On the Need for Mutual Confidence in MedicineG. Schwan1
  • 1Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
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Publication Date:
02 January 2007 (online)

Einleitung

Wer einmal in Epidaurus, dem Heiligtum des Aeskulap, eine Aufführung der Antigone erlebt hat, dem wird dieses faszinierende Ereignis vor der abgestuften Bergsilhouette im durchscheinenden Abendhimmel wohl lange in Erinnerung bleiben. Wir kennen den Inhalt dieser archetypischen Tragödie, und wenn sie sich, ohne dass man den neugriechischen Text verstünde, vor unseren Augen abspielt, dann versteht man spontan die Weisheit, die die Anlage dieses berühmten griechischen Heilbades gestaltet hat: Die Kranken sollten ihre Heilung nicht nur durch körperliche Kuren, sondern auch in der kathartischen Wirkung von Kunst und Philosophie finden. Sind die technisch vorzüglich ausgestalteten Universitätskliniken unser modernes Epidaurus?

Daran kann, wie mir scheint, einerseits kein Zweifel sein. Wie viel körperliches Leid bleibt uns allein dank der rasanten Entwicklung der technischen Mittel für die Verbesserung von Diagnose und Therapie erspart, welche großartigen Erfolge haben die wissenschaftlichen Entdeckungen im Kampf gegen Infektionskrankheiten und Epidemien erzielt. Wer diese Wohltaten am eigenen Leib oder als Angehöriger eines Patienten erfahren hat, wird sie hoch veranschlagen.

Und doch tut sich zunehmend Unbehagen an der hochtechnisierten Medizin kund. Die personale Dimension des Heilens droht dabei unterzugehen [1]. Der ganze Mensch soll wieder mehr in den Blick kommen. Ein wenig mehr „Epidaurus” möchte offenbar sein. Die Ahnung wird immer deutlicher, dass die Reparatur der Bauchspeicheldrüse noch nicht bedeutet, dass der Kranke geheilt ist, geschweige denn, dass erkannt worden wäre, weshalb die Bauchspeicheldrüse denn nicht mehr funktionierte, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass der von Natur aus heile Mensch in seinem von Natur aus heilen Körper krank wurde? Oder sind wir Menschen von Natur aus gar nicht heil? Gehört die Krankheit vielleicht zu unserer Natur? Stehen Krank-Sein und Heil-Sein nicht notwendig im Gegensatz zueinander? Was unterschiede dann aber Krankheit von Gesundheit? Was hieße dann eigentlich heilen? Wer oder was heilt: Der Arzt oder die Ärztin den Kranken, die kranke Person sich selbst, die Natur sich selbst oder Gott uns alle?

Die erste Annahme, von der wir spontan ausgehen, lautet wohl: Der Arzt heilt den Patienten. Und so scheint auch die im Thema gestellte Frage, ob man ohne Vertrauen heilen könne, eher eine rhetorische zu sein, der wie selbstverständlich die Antwort folgt: Ohne Vertrauen kein Heilen, der Patient muss dem Arzt vertrauen, damit dieser ihn heile. Die Gegenposition erschiene absurd: Dass der Arzt dem Patienten sein Vertrauen schenken müsse, damit der Patient den Arzt heile. Schließlich ist der Arzt ja heil und der Patient krank. Oder ist das nicht so klar? Aus der Erfahrung mit der Erziehung unserer Kinder wissen wir, dass sie eine bessere Chance hat, wenn wir Erziehenden uns zugleich von den Kindern erziehen lasse, z. B. zu Selbstkritik und Ehrlichkeit. Freilich kommen in der Regel eher die Mütter in den Genuss dieser Erfahrung, woraus man schließen könnte, dass die Väter unerzogener sind. Aber so weit will ich nicht gehen.

Wenn es demnach ein Gemeinplatz zu sein scheint, dass Vertrauen und Heilen zusammengehören, so ist doch dieser Zusammenhang damit noch nicht wirklich erschlossen.

Literatur

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