Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(51/52): 2707-2711
DOI: 10.1055/s-2003-812550
Weihnachtsausgabe

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vom Herz zum Hirn

From the heart to the brainR. Schandry
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Publication Date:
17 December 2003 (online)

Das Herz als Sitz von Gefühl und Verstand

Das Herz als Hort der Gefühle und das Gehirn als Sitz des Verstandes, diese Zuschreibungen kennt man seit der Antike. Allerdings kam in zahlreichen Kulturen, Religionen und Mythen dabei dem Herzen eine wesentlich größere Bedeutung zu als dem Gehirn. So galt den Ägyptern das Herz als Sitz des Denkens, der Vernunft aber auch der Gefühle. Jedoch nicht nur das, durch das Herz konnte Gott mit dem Menschen in Kontakt treten. Das „Herz ist ein Orakel des Gottes in einem jeden” lesen wir in einer Schrift eines Herolds von Thutmosis III aus dem zweiten Jahrtausend (vgl. 3). Im alten China galt das Herz als das intellektuelle Zentrum des Menschen. Die Azteken sahen im Herzen den Sitz von Kraft und Energie, von dem sogar die Sonne zehren musste. Daher war beim Sonnenopfer ein noch schlagendes menschliches Herz darzubieten.

Im Christentum gelangte die Bedeutung der Herzmetapher in der Gedankenwelt des Augustinus zu einen Höhepunkt. Er spricht vom Herzen als dem Zentrum und dem Wesensbestimmenden des Menschen. Das Herz wird hier zum Synonym für ein Organ des Erkennens sowie des Fühlens, das beides umfasst. Außerordentlich populär wurde die Herzsymbolik in der christlichen Heiligenverehrung mit der Verbreitung des Herz-Jesu-Kults durch die Jesuiten zu Zeiten der Gegenreformationen. Geradezu eine Inflation von Herz-Jesu-Darstellungen war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Die Darstellung der Liebe Jesu etwa in Gestalt eines flammenden Herzens war besonders beliebt (Abb. [1]). Damit wurde das Herz schließlich zum Symbol für die Liebe und das Gefühl schlechthin, wogegen es seine Bedeutung als Organ der Vernunft oder der Energie eingebüßt hatte.

Abb. 1 Die Darstellung Jesu mit einem strahlenden oder flammenden Herzen versinnbildlicht die Liebe und Güte des Herrn. Die Herzmetapher als Symbolisierung der Gefühle dürfte im westlichen Kulturkreis mit den Herz-Jesu-Darstellungen allerweitesten Volksschichten nahe gebracht worden sein.

Mit Descartes (1596 - 1650) zogen die Erkenntnisse der Medizin und Anatomie auch in die Betrachtung des Herzens als „Sitz der Seele” ein. Er forderte den Primat des Gehirns über das Herz, in dem er etwa schrieb [6]: „Was die Meinung derjenigen betrifft, die denken, dass die Seele die Leidenschaften im Herzen empfange, so ist sie nicht weiter der Beachtung wert. Denn sie ist allein darauf gegründet, dass die Leidenschaften hier gewisse (chemische) Veränderungen empfinden lassen. Es ist leicht festzustellen, dass diese Veränderung gleichsam im Herzen nur mittels eines kleinen Nervenstrangs empfunden wird, der vom Hirn ins Herz hinabreicht, so wie der Schmerz auch gleichsam im Fuß empfunden wird mittels der Fußnerven.” So erhält das Gehirn als Ort der mentalen Vorgänge eine Vormachtstellung; das Herz liefert lediglich gewisse Signale, die dann im Gehirn als Empfindungen perzipiert werden. Wenn es Descartes an dieser Stelle auch primär darum ging, die Idee vom Herzen als der Verbindung zwischen Seelischem und Körperlichem auszuräumen, so beweist sein Hinweis auf die Neurotransmission vom Herz zum Hirn als ein Charakteristikum der Entstehung von Gefühlen („Leidenschaften”) wiederum einen faszinierenden Weitblick (vgl. die Theorie von James und Lange, weiter unten). Dennoch finden sich andere Gelehrte dieser Zeit, die das Herz (und damit die Gefühle) nicht pauschal unter das Diktat des Gehirns stellen wollen. So schreibt der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623 - 1662) „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.”[15]

Verfolgt man die Historie weiter, so kann es nicht verwundern, dass in den folgenden beiden Jahrhunderten, die im Zeichen der Aufklärung standen, das Herz in wissenschaftlichen Betrachtungen primär als zentrales Organ des Kreislaufsystems gesehen wurde. Ein Einfluss auf den Bereich der mentalen Vorgänge wurde ihm nicht mehr zugestanden. Es wurde zwar konzediert, dass es im Zuge von Gefühlsregungen seine Aktivität verändern mag, quasi als ein Epiphänomen der mentalen Vorgänge, jedoch musste jetzt der Gedanke, dass Gefühle „aus dem Herzen kommen” als abwegig gelten.

Literatur

  • 1 Barbalet J M. William James’ theory of emotions: filling in the picture.  J Theory Soc Behav. 1999;  29 251-266
  • 2 Benarroch E E. The central autonomic network. Philadelphia: Lippincott-Raven In: Low PA, editor. Clinical autonomic disorders 1997: 17-23
  • 3 Brunner H, Röllig W H. Das hörende Herz. Kleine Schriften zur Religions- und Geistesgeschichte Ägyptens. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1997
  • 4 Cannon W B. The James-Lange theory of emotion: a critical examination and an alternative theory.  Am J of Psychol. 1927;  39 106-124
  • 5 Damasio A R, Grabowski T J, Bechara A, Damasio A, Ponto L LB, Parvizi J. et al . Subcortical and cortical brain activity during the feeling of self-generated emotions.  Nat neurosci. 2000;  3 1049-1056
  • 6 Descartes R. Les passions de l’âme. Paris: Henri Le Gras 1649
  • 7 Ehlers A. A 1-year prospective study of panic attacks: clinical course and factors associated with maintenance.  J Abnorm Psychol. 1995;  104 164-172
  • 8 Ehlers A. Cardiac perception, panic attacks and phobias. Frankfurt a. M.: Peter Lang In: Vaitl D, Schandry R, editors. From the heart to the brain: the psychophysiology of circulation-brain-interaction 1995: 299-315
  • 9 James W. What is an emotion.  Mind. 1884;  9 188-205
  • 10 James W. The principles of psychology. New York: Dover Publications 1890 (Vol. 1)
  • 11 Leek B F. Abdominal visceral receptors. Heidelberg: Springer In: Neil E, editor. Handbook of sensory physiology 1972: 113-160
  • 12 Leopold C, Schandry R. The heartbeat-evoked brain potential in patients suffering from diabetic neuropathy and in healthy control persons.  Clin Neurophysiol. 2001;  112 674-682
  • 13 Liebhart E H. Attributionstherapie. Beeinflussung herzneurotischer Beschwerden durch Externalisierung kausaler Zuschreibungen.  Z Klin Psychol. 1974;  3 71-94
  • 14 Montoya P, Schandry R. Emotional experience and heartbeat perception in patients with spinal cord injury and control syubjects.  Journal of Psychophysiology. 1994;  8 289-296
  • 15 Pascal B. Pensées. Paris 1660
  • 16 Ramon y Cayal S. Histologie du systeme nerveux de l’homme et des vertebres. Paris 1911
  • 17 Schandry R. Heart beat perception and emotional experience.  Psychophysiology. 1981;  18 483-487
  • 18 Schandry R, Montoya P. Interindividual differences in cardiac awareness and their relation to cardiac function.  Psychophysiology. 1994;  31 S86
  • 19 Schandry R, Bestler M. The association between parameters of cardiovascular function and heartbeat perception. Frankfurt a. M.: Peter Lang In: Vaitl D, Schandry R, editors. From the heart to the brain: the psychophysiology of circulation-brain-interaction 1995: 223-250
  • 20 Sherrington C S. Experiments on the value of vascular and visceral factors for the genesis of emotions.  Proc R Soc Lond. 1900;  66 390-403
  • 21 Wiens S, Mezzacappa E S, Katkin E S. Heartbeat detection and the experience of emotions.  Cogn Emotion. 2000;  14 417-427

Prof. Dr. Rainer Schandry

Department Psychologie der Universität München, Biologische Psychologie

Leopoldstraße 13

80802 München

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