Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(15): 789
DOI: 10.1055/s-2003-38580
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Über Wissenschaft und Politik

About science and politicsE. Erdmann1
  • 1Institut: Klinik III für Innere Medizin
Further Information

Publication History

Publication Date:
10 April 2003 (online)

Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Manchen scheinen die Änderungen im Gesundheitssystem gar nicht schnell genug gehen zu können, andere verstehen die Welt nicht mehr. Überall wird gespart. 40 % der Krankenhäuser seien angeblich überflüssig, ein neues Abrechnungssystem, zur Zeit noch für die stationäre Versorgung, später auch für die ambulante Patientenbetreuung gedacht, soll den Krankenstand reduzieren, durch Disease Management Programme sollen Ärzte die Ökonomie und die Therapie unter einen Hut bringen, und ein „Zentrum für Qualität in der Medizin” soll mit ministeriellem Erlass gegründet werden, damit eine Flut neuer Verordnungen erlassen werden kann. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf versuchen wir, durch unsere jährlichen wissenschaftlichen Kongresse den neuesten Stand der Diagnostik und Therapie zu verstehen und kritisch zu beurteilen sowie das eigene Handeln im Lichte der fortschreitenden Erkenntnis zu hinterfragen und mit unseren Fachkollegen dieses oder jenes schwierige Thema zu diskutieren. Die Politik spielt in der Regel bei wissenschaftlichen Kongressen nur eine geringe Rolle. Wir haben ja auch genügend fachliche Probleme! Vielleicht aber sollten wir Ärzte in Zukunft zumindest die Gesundheitspolitik genauer beobachten und versuchen, sie aktiv mitzugestalten. Warum wird eigentlich nur das Justizministerium stets von einem Juristen geleitet, während man uns in der Regel fachfremde Minister zumutet?

Mit viel Mühe haben unsere Fachgesellschaften Leitlinien erstellt, um dem Arzt eine Hilfe zu geben und die Behandlung von Kranken zu verbessern. Untersucht man nun, inwieweit Patienten leitliniengerecht behandelt werden, erlebt man leider häufig eine Enttäuschung. Manchmal wird noch nicht einmal die Hälfte der Patienten so therapiert, wie es dem Stand der modernen Forschung entspricht. Dafür mag es viele Gründe geben. Sei es, dass der behandelnde Arzt die Leitlinien gar nicht kennt, sei es, dass der Patient die verordneten Medikamente nicht einnehmen will oder sei es, dass die Nebenwirkungen doch schwerwiegender waren als dies in kontrollierten Studien erfasst wurde. Wie dem auch sei, an der leitliniengerechten Therapie kommen wir heute nicht mehr vorbei, auch wenn Juristen dies durchaus kontrovers diskutieren. Deshalb wird heutzutage auf den Kongressen nicht nur eine Leitliniensitzung vorgesehen, sondern es gibt derer meist drei oder vier. Trotzdem ist der Weg richtig, nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Basis für die Behandlung von Kranken zu erstellen, die beachtet werden sollte.

Wer selbst an deutschen oder europäischen Leitlinien mitgearbeitet hat, weiß, wie viel Zeit, Wissen und Geduld hineingesteckt werden müssen, ehe Konsens selbst bei vermeintlich eindeutiger Datenlage erreicht werden kann. Auch muss man sich gelegentlich mit Kraft gegen externe, merkantile Einflüsse stemmen. Eine Freude ist diese mühevolle Arbeit selten! Wenn man aber glaubt, dass die aufs Sparen ausgerichtete politische Führung im Gesundheitsministerium daran interessiert sei, nur die evidence based medicine zu unterstützten und nur die Arzneimittel als verordnungsfähig und damit als kassenerstattungsfähig zuzulassen, die in ihrer Wirksamkeit geprüft sind, so irrt man sich gewaltig. Politik hat offensichtlich weniger mit Wissen und Wissenschaft sondern mehr mit Lobbyismus zu tun. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist der vom Gesundheitsministerium vorgelegte Gesetzentwurf, die „Positivliste”. Hier werden die verordnungsfähigen Medikamente aufgelistet, unter denen sich etwa 1800 Homöopathika, 1200 Anthroposophika und 350 Phytopharmaka befinden. Keiner dieser 3350 Wirkstoffe ist unter den Kriterien getestet worden, wie dies sonst für Medikamente gesetzlich vorgeschrieben ist. Es befinden sich erstaunlich obskure Substanzen darunter: dens suis, penis bovis, fel piscis (Galle vom Fisch), rectum suis, testes embryonalis bovis, Asche, Pech, Schwefel, rote Waldameise und Blutegel, Marienkäfer und getrocknete Tarantel. Ungeklärt ist, ob das ebenfalls gelistete cerebellum bovis auch wirklich BSE-frei ist. Mir ist schleierhaft, wer mit Fischgalle und Stierpenis welche Krankheit heilen oder lindern will. Das New England Journal of Medicine und die DMW jedenfalls weisen keine Originalarbeiten oder kontrollierte Studien mit Feuersalamander, os suis oder getrockneten Spinnen aus.

Ohne Zweifel ist es unsere Aufgabe, durch eine gute Fortbildung, wissenschaftliche Anstrengungen und eine genaue Prüfung neuer Medikamente den medizinischen Standard hochzuhalten. Es ist betrüblich, wenn dies nicht immer geschieht. Unverzeihlich ist es, wenn auf Kassenkosten 3350 neue Wirkstoffe ungeprüft mit dem Segen einer fachfremden Ministerin und ihrer „Positivliste” als Gesetz zugelassen werden. Dafür sind manche, von Fachgesellschaften in den entsprechenden Leitlinien genannte Pharmaka in dieser Liste nicht enthalten. Dieses Gesetz ist ein zivilisatorischer Rückschritt, den Ärzte nicht einfach so hinnehmen sollten. Wir dürfen es nicht zulassen, wenn vor der Lobby von Außenseitern einknickende Politiker uns aus Unkenntnis oder Bosheit mit Schamanen und Heilkundigen früherer Kulturen in eine Ecke stellen wollen.

Prof. Dr. med. E. Erdmann

Klinik III für Innere Medizin

Joseph-Stelzmann-Straße 9

50924 Köln

    >