Dtsch Med Wochenschr 1925; 51(49): 2022-2024
DOI: 10.1055/s-0028-1137400
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Frage der Beziehungen zwischen Kleinhirn und Vestibularapparat

E. Wodak, B. Fischer
  • Aus der Deutschen Psychiatrischen Klinik in Prag. (Vorstand: Prof. Pötzl.)
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Publikationsdatum:
23. Mai 2009 (online)

Zusammenfassung

Bei einem Individuum mit einer durch Operation sichergestellten rechtseitigen Kleinhirnzyste konnte vor und nachher ein genauer vestibularer Befund erhoben werden. Vor der Operation war außer geringer spontaner AbR nach rechts in beiden Armen und ATR. r. ↓ kein pathologisches vestibularen Symptom zu erheben. Vor allem fehlte das VZ.! Nach der Operation trat für 2—3 Tage AbR beiderseits nach links auf, die wieder bald verschwand. Sodann wurden bei mehreren genauen Untersuchungen die vestibularen Reaktionen (Nystagmus und tonische Reflexe) deutlich vorhanden gefunden, letztere vielleicht etwas schwerer auslösbar und schwächer als normal. Spontanes VZ. fehlte auch nach der Operation.

Welche Folgerungen lassen sich nun aus diesen Befunden ziehen? Wir haben hier einen geheilten Fall von Kleinhirnzyste rechts vor uns, bei dem operativ fast das ganze Neozerebellum rechts (also ohne den Nucleus dentatus) abgetragen wurde, wo daher mit Sicherheit jene Region der Kleinhirnrinde entfernt wurde (siehe die Arbeit von Schloffer und Pötzl in der Festschrift), in der die sogenannten Zentren nach Bárány gelegen sind. Nach Báránys Ansicht hätte man nachher durch den Ausfall dieser Zentren bestimmte Störungen im Ablauf der sogenannten tonischen vestibularen Reflexe (AbR., VZ., Fallen) beobachten müssen, die, wie unser Fall zeigt, ausblieben. Wir glauben daher aus diesen Tatsachen den Schluß ziehen zu dürfen, daß zum Zustandekommen dieser tonischen vestibularen Reflexe jene Zentren in der Kleinhirnrinde durchaus nicht unbedingt notwendig sind. Dieser Schluß gewinnt noch an Beweiskraft, wenn man die Ergebnisse der Utrechter Schule (Magnus und de Kleijn) danebenhält, die an Tieren gewonnen sind. Aus diesen Experimenten ging eindeutig hervor, daß man selbst nach totaler Entfernung des Kleinhirns sämtliche vestibularen Reflexe auszulösen imstande ist.

Von Fällen in der Literatur, die diesen Schluß auch für den Menschen gestatten, wird gewöhnlich auf den bekannten Fall von de Stella hingewiesen, der aber doch wesentliche Unterschiede gegenüber unserem Falle aufweist, sodaß es notwendig erscheint, näher darauf einzugehen.

De Stella beobachtete eine Patientin mit einem rechtseitigen Kleinhirn-Brückenwinkel-Tumor, die von uns hier interessierenden Symptomen vor der Operation Folgendes bot: Oktavus rechts in beiden Aesten vollständig ausgeschaltet, im rechten Arm spontanes VZ nach außen. Bei der Operation, wurde der Tumor entfernt, wobei gleichzeitig wegen einer Verletzung des rechten Kleinhirnes die ganze rechte Kleinhirnhemisphäre inklusive Nucleus dentatus abgetragen wurde (histologisch später sichergestellt). Patientin lebte nach der Operation noch mehr als 8 Wochen, wurde vom 10. Tag an regelmäßig untersucht und zeigte folgende Symptome: Die Erregbarkeit des Oktavus trat allmählich in beiden Aesten wieder auf, das Gehör besserte sich bis zu einem gewissen Grade, und auch der Vestibularis war rechts zum Teil wieder erregbar. Es trat nämlich bei Kaltspülung rechts typischer Nystagmus auf, allerdings langsamer und schwächer als normal. Das spontane VZ im rechten Arm nach außen blieb bestehen. Die anfänglich nach der Operation vorhandene Unsicherheit beim Gehen verschwand etwa von der 5. Woche an vollkommen.

De Stella zieht aus diesem Falle folgende Schlüsse: 1. Das Kleinhirn ist nicht das Zentralorgan des Vestibularis. 2. Die Labyrinthreflexe gehen nicht über das Kleinhirn. 3. Man könnte jedoch eine dazwischengeschaltete, akzessorische Bahn annehmen, die über das Kleinhirn verläuft. 4. Infolge dieser Bahn wirkt das Kleinhirn in dem Sinne, daß es die Labyrinthreflexe, die Bewegungen und die Koordination beeinflußt, d. h. steigert, hemmt oder vervollkommnet.

Soweit die Schlußfolgerungen de Stellas. Wir pflichten ihnen im Prinzip vollständig bei, wenn uns auch die Prämissen de Stellas nicht derartige zu sein scheinen, daß Schlüsse von so weittragender Bedeutung daraus gefolgert werden dürften. Sehen wir uns einmal an, aus welchen Beobachtungen de Stella die Unabhängigkeit der vestibularen Reflexe vom Kleinhirn erschließt. Maßgebend hierfür sind offenbar nur die nach der Operation erhobenen Befunde, von denen de Stella eigentlich nur den kalorischen Nystagmus nach Kalt- und Warmspülung sowie das spontane VZ. im rechten Arm nach außen anführt. Letzteres hatte auch schon vor der Operation bestanden und wird von de Stella als Folge der hochgradigen Ataxie des rechten Armes angesehen. Wir sind derselben Ansicht (siehe E. Wodak, Mschr. f. Ohrhlk. 1925 H. 3) und möchten daher dieses Symptom mit de Stella kaum als vestibular auffassen.

Wie man also sieht, fehlt in der sonst so genauen Krankengeschichte de Stellas jegliche Angabe über die Intaktheit der tonischen vestibularen Reflexe nach experimenteller Vestibularisreizung, d. h es fehlen Angaben über das experimentelle VZ., über die AbR. und die vestibularen Körperreflexe (Fallen usw.). Dasselbe ist von den Befunden vor der Operation zu sagen. Die Bemerkung de Stellas (S. 356), wo er unter den vorhandenen Labyrinthreflexen nach der Operation den „tonus musculaire” aufzählt, kann sich nur auf den anfangs schwankenden, später gebesserten Gang beziehen. Aus den Befunden de Stellas kann man daher nur den Schluß ziehen, daß bei seiner Patientin die bereits erloschene vestibulare Erregbarkeit rechts für den Nystagmus nach der Operation wieder auftrat, daß weiter ziemlich bald auch sämtliche Gangstörungen behoben waren, alles dies trotz Entfernung der rechten Kleinhirnhemisphäre. Daß aber trotz dieses Umstandes die tonischen vestibularen Reflexe, besonders das experimentelle VZ. und die AbR. durch Vestibularisreizung auslösbar waren, läßt sich aus der Krankengeschichte unseres Erachtens nicht folgern. Da nun Bárány vor allem für die tonischen Reflexe in der Kleinhirnrinde das Zentrum sah — für den Nystagmus scheint er dies nie angenommen zu haben —, glauben wir, daß der de Stellasche Fall — wenigstens nach den vorliegenden Befunden — keine genügende Handhabe bietet, diese Ansicht Báránys zu widerlegen. Es ist wohl möglich, daß de Stellas Fall alle diese Reflexe auch nach der Operation zeigte, daß dies aber sein kann, hat erst unser Patient mit der nötigen Exaktheit bewiesen. Unser Fall ist daher — soweit wir die Literatur überblicken können — der erste am Menschen beobachtet, doppelt wertvoll, weil er in Heilung überging.

Wir müssen uns nun fragen, woher es kommt, daß bei unserem Patienten die vestibularen Reflexe nach der Operation schwerer als normal auslösbar waren. Bei der Prüfung der spontanen und experimentellen vestibularen Reflexe fiel an unserem Falle folgendes auf: Prüfte man die spontane AbR. in der Weise (siehe Näheres darüber bei M. H. Fischer und E. Wodak acta otolar. 1925), daß man Patienten beide Arme nach vorn ausstrecken ließ (Daumen nach oben!), während der Versuchsleiter seine Hände an die des Patienten leicht anlegte, so konnte man deutlich fühlen, daß die Arme des Patienten nach einer gewissen Richtung einen merklichen Druck ausübten. Wenn man bei einem Patienten einen solchen Druck der Arme spürt und jetzt seine eigenen Hände langsam wegzieht, so pflegen die Hände des Patienten nach der Richtung des verspürten Druckes mehr minder rasch hinauszuschnellen — spontane Abweichreaktion. Dies war nun merkwürdigerweise bei unserem Patienten nicht der Fall. Zog man die Hände ab, so blieben die Arme des Patienten starr in der ursprünglichen Lage, so wie wenn sie von einer höheren Gewalt hier festgehalten würden. Untersuchte man das spontane oder experimentelle VZ., so konnte man Folgendes sehen: Sobald Patient den Zeigearm vom Knie gegen den Zeigefinger des Arztes hob, wich der Arm deutlich in der zu erwartenden Richtung ab, um dann im Bogen ganz unerwartet den Zeigefinger zu treffen. Ganz ähnlich war das Verhalten beim Gehen: Patient wich nach Vestibularisreizung zunächst in typischer Richtung ab, um knapp vor dem Ziel plötzlich eine Schwenkung zu machen, durch die er das Ziel erreichte. Also auch hier ging er im Bogen. Dieses Verhalten bei der spontanen AbR., beim Zeigeversuch und beim Gehen ist wohl nur durch eine zerebrale Korrektur zu erklären.

Daß der Ausfall der vestibularen Reaktionsbewegungen und Reflexe zerebral korrigiert werden kann, ist bekannt. Einer von uns (Wodak) hat sich ja näher mit diesem Faktor beschäftigt (siehe Wodak — M. H. Fischer, Zschr. f. Hals-, Nasen-, Ohrenhlk., Kongreßbericht München). Es ist nun wahrscheinlich, daß diese zerebrale Korrektur bei unserem Falle rascher und ausgiebiger als sonst auftrat, offenbar um den durch den Kleinhirnausfall entstandenen Mangel zu decken. Man kann aus diesem Verhalten wohl den Schluß ziehen, daß durch die Resektion eines großen Teiles der rechten Kleinhirnhemisphäre eine Störung einsetzte, für die das Großhirn vikariierend eintreten mußte. Diese zerebrale Korrektur erfolgte so weitgehend, daß man spontan eigentlich überhaupt keinen Ausfall sehen konnte, von dem geschilderten eigenartigen Verhalten bei der Prüfung auf AbR. und VZ. abgesehen. Höchstens käme hier noch die erwähnte schwerere Auslösbarkeit der tonischen vestibularen Reflexe in Betracht, als Ausfallssymptom gewertet zu werden. Es wird sich empfehlen, in ähnlichen Fällen diesen bisher in der Literatur kaum gewürdigten und studierten Phänomenen künftig mehr Beachtung zu schenken.

Zu erörtern wäre noch die Frage, die besonders den Neurologen interessiert, ob hier auf Grund der bestehenden vestibularen Symptome die Diagnose der erkrankten Seite möglich. war oder nicht. Neurologisch wurde auf Grund des Fallens nach links hinten, der Neigung von Kopf und Körper zur selben Seite als Sitz der Affektion die linke Seite angenommen. Demgegenüber stand die Angabe des Patienten, nach rechts gezogen zu werden, weiter die spontane

AbR beiderseits nach rechts sowie die ATR r. ↓. Vielleicht wird man in Hinkunft den spontanen vestibularen Symptomen eine erhöhte Aufmerksamkeit widmen müssen, denn, wie die Beobachtung dieses und anderer Fälle zeigt, ist hier die Möglichkeit gegeben, in der Stellung der Seitendiagnose einen Schritt weiter zu kommen. So möchten wir auf Grund einiger an der Klinik Pötzl beobachteter Fälle glauben, daß das Auftreten einer spontanen AbR. nach einer Seite sowie insbesondere das konstant nachweisbare auffallende Sinken eines Armes (ATR.) vielleicht in dem Sinne gedeutet werden könne, daß auf dieser Seite die Affektion sitze. Es sei jedoch betont, daß diese Symptome vorderhand keineswegs als absolut verläßlich anzusehen sind. Vor allem soll man sich dann nicht auf sie verlassen, wenn andere neurologische Symptome entschieden dagegen sprechen.

Nun noch einige Worte bezüglich des Fallens: Beim Patienten bestand subjektiv Zug nach rechts, objektiv Fall nach links hinten. Der Neurologe hielt sich an das Objektive. Es sei daran erinnert, daß man das objektive Fallen nach links als eine — vielleicht unbewußte — regulierende Tätigkeit des Organismus auffassen könne, die den spontanen Zug nach rechts zu korrigieren hätte. Es ist also zu erwägen, ob man künftighin nicht auch den subjektiven Angaben des Patienten bezüglich des Fallens etwas mehr Bedeutung beimessen solle.

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