Zeitschrift für Palliativmedizin 2023; 24(06): 292
DOI: 10.1055/a-2178-8426
Forum
Lebensliteratur

Die Wut die bleibt

Zoom Image

„Haben wir kein Salz“ fragt der Mann beim gemeinsamen Abendessen mit den drei Kindern. Helene, seine Frau steht auf, geht zum Balkon und stürzt sich, ohne ein Wort zu sagen, in den Tod.

Mit diesem dramatischen Ereignis beginnt „Die Wut die bleibt“, Marlene Fallwickels viel diskutierter Roman.

Zurück bleibt eine Familie in Schockstarre: Lola, die 15-jährige pubertierende Tochter, ihre deutlich jüngeren Halbbrüder Lucius und Maxi, der Ehemann Johannes und die beste Freundin Sarah.

Der dritte Roman der in Salzburg lebenden Autorin spielt in ihrer Heimatstadt. Es ist die Zeit der Lockdowns, die Möglichkeit sich zu begegnen ist eingeschränkt, und so haben sich auch Helene und Sarah, die seit ihrer Kindheit enge Freundinnen sind, zuletzt selten getroffen. Die Männer können es sich richten, ihrer Arbeit nachgehen, dem Alltag zu Hause entfliehen, während auf den Frauen der ganze Druck lastet.

Das Buch ist eine Anklage gegen die männliche Dominanz, gegen die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen ihnen den Rücken freihalten, gegen die Übergriffe, die tagtäglich stattfinden und die fehlende Wahrnehmung dieser Probleme in der Gesellschaft.

„Einer der vielen Schmerzen, die Männer nicht spüren, von denen Männer nicht wissen, dass sie existieren, und wie gut wäre es, ihnen einen Frauenkörper geben zu können, für Stunden nur. Damit sie die Last der Erwartungen tragen müssen, den Kummer in jeder Zelle, diese tiefgehende, von außen hineingepresste Enttäuschung, nicht zu entsprechen, nicht zu genügen, ein jeden Bereich des Frauenlebens betreffender Vorwurf, von dem man nie davonlaufen kann, dem man überall begegnet, egal, wie schnell man rennt.“

Die Wut wandert zwischen Lola und Sarah hin und her und bahnt sich unterschiedliche Wege an die Oberfläche. Es ist eine Wut gegen das Unbegreifliche dieses Selbstmords, aber auch eine Wut gegen die Normen einer patriarchalen Welt. Der Leser wird mithineingezogen in die Gefühlswelt der Protagonisten, und braucht auch immer wieder „Verschnaufpausen“, um diese so eindrücklich geschilderten Szenen verarbeiten zu können.

Der Roman ist ein Sprachkunstwerk, das es schafft, sowohl die Welt der jugendlichen Lola, die sich vom magersüchtigen Teenager zu einer selbstbewussten, teils auch sehr aggressiven Feministin wandelt, als auch die der 40-jährigen Sarah, welche sich der Kinder annimmt, im Haushalt einzieht und somit mit einer ganz neuen Rolle konfrontiert ist, eindrücklich darzustellen.

Momente der Wut wechseln mit berührenden, sehr intimen Szenen, und verleihen damit der Trauer eine ungewöhnliche Authentizität, die den Leser in ihren Bann zieht.

„Sie weint um den Kakao und die Fragen und weil sie Mama nicht erzählen kann von diesem ersten Fastkuss, jetzt nicht und auch sonst niemals, weint wegen der Umarmungen, die ungespürt bleiben und dem Duft, den es in dieser Kombination nie wieder an jemanden geben wird, weint wegen Sarah, die freundinlos ist, wegen Lucius und Maxi, die mutterlos sind, alle angedescht, aufgerissen, verwundet, sie weint in erster Linie, um sich selbst.“

Neben den starken Frauenfiguren besticht auch die formale Herangehensweise: Die einzelnen Kapitel deren Überschriften zusammenfassen, was im folgenden Abschnitt geschildert wird, stellen abwechselnd Lola und Sarah in den Mittelpunkt. Auch Helene kommt zu Wort, wenn sie mit ihrer Freundin in einen imaginierten Dialog tritt. Eingerahmt ist der Roman von einem kursiven Prolog bzw. Epilog, in welchem sich die Verzweiflung und Zärtlichkeit der Verstorbenen widerspiegelt.

Kunstvoll führt die Autorin die Erzählstränge am Ende zusammen.

Der Roman endet mit dem Resümee von Lola: „Mädchen wie wir werden überall gebraucht.“

Im Sommer dieses Jahres fand die viel bejubelte Uraufführung der Theateradaption bei den Salzburger Festspielen statt.

Otto Gehmacher, Hohenems



Publication History

Article published online:
27 October 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany