Dtsch Med Wochenschr 2024; 149(06): 268-269
DOI: 10.1055/a-2171-5263
Aktuell publiziert

Kommentar zu „Cannabis-Therapien zeigen je nach Patientengruppe deutliche Vor- und Nachteile“

Contributor(s):
Peter Neu

Die Studie von Solmi et al. hat sich zum Ziel gesetzt, die Risiken und den Nutzen für die menschliche Gesundheit gegenüberzustellen, die durch den Gebrauch von Cannabis, Cannabinoiden und medizinischen Cannabisprodukten entstehen. Dabei bedienten sich die Autoren des Studiendesigns eines sogenannten „Umbrella Reviews“. Dies sind Reviews von bereits vorher veröffentlichten systematischen Reviews oder Metaanalysen und sie bestehen in der Wiederholung der Analyse nach einem einheitlichen Standard und gemeinsam untersuchten Faktoren, die eine einheitliche Bewertung erlauben. Aufgrund der großen Menge an berücksichtigten Studien, die zu einem bestimmten Thema durchgeführt wurden (im vorliegenden Fall wurden 101 Metaanalysen berücksichtigt), stellt das Umbrella Review eine Form der Bewertung der aktuellen Datenlage von höchstem Evidenzgrad dar [1]. Gerade in Forschungsgegenständen, die stark sozialmedizinische Bereiche berühren und von vielen diversen Faktoren beeinflusst werden, wie z.B. im Falle des Cannabis, mangelt es an einheitlichen Studien mit vergleichbaren Fragestellungen und Bedingungen. Daher stehen wenige Studien zur Verfügung, die andere Untersuchungen replizieren. Insofern können Umbrella Reviews hier besonders wertvoll sein, weil sie die Vielzahl von untersuchten Bereichen, die durch den Konsum von Cannabis bzw. Teile seiner Inhaltsstoffe berührt werden, zu einem großen Ganzen zusammenfassen.

Cannabisprodukte mussten in der jüngeren und mittleren Medizingeschichte im Wesentlichen immer 2 Hürden nehmen: Sie mussten ihren sinnvollen Einsatz als Medizinprodukt unter Beweis stellen und sie mussten dem Misstrauen standhalten, ob die mutmaßlich schädlichen Wirkungen der als Genussmittel verwendeten Cannabisprodukte ausreichend kontrollierbar seien und nur einen begrenzten Schaden anrichteten. Auf diese beiden Punkte zielten die meisten Studien ab. Und auf eine systematische Auswirkung zielt dementsprechend auch das Umbrella Review von Solmi et al. ab.

Cannabisprodukte mit unterschiedlichen Konzentrationen von sowohl delta-Tetrahydrocannabinol als auch Cannabidiol sind in vielen Ländern der Welt inzwischen als Medizinprodukte legal und verschreibungsfähig, die Regelungen sind je nach Land teils sehr unterschiedlich. Als die häufigsten Indikationen gelten u.a. chronische Schmerzsyndrome, therapierefraktäre Epilepsien, Spastiken (z.B. im Rahmen einer multiplen Sklerose) und Sedierung (z.B. in der Palliativmedizin).

Einige Länder (große Teile der USA, Kanada, Uruguay) [2] [3] [4] haben den Gebrauch von delta-Tetrahydrocannabinol-haltigen Produkten zu Genusszwecken legalisiert. Die gesellschaftspolitischen Diskussionen, die in anderen Ländern im Gange sind, welche eine Legalisierung diskutieren, stellen vor allem die Frage nach den möglichen nachteiligen Folgen für die Volksgesundheit. Als allererste und wichtigste Frage wollen die Wissenschaft und Politik wissen, wie sich Cannabis auf Jugendliche und Heranwachsende auswirkt, denn diese Antwort wird wesentlich eine Entscheidung bezüglich einer Cannabis-Legalisierung zu Genusszwecken mitbestimmen. Ferner geht es um andere besonders schützenswerte Bevölkerungsgruppen wie z.B. das ungeborene Leben. Und schließlich – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit Alkohol – um die Verkehrssicherheit.

Wer die Literatur zu Cannabis verfolgt hat, wird von den Ergebnissen des Umbrella Reviews von Solmi et al. wenig überrascht. Im medizinischen Bereich gibt es durchaus Erfolge zu verzeichnen, besonders im Bereich der Epilepsie, der multiplen Sklerose, chronischer Schmerzen und der Palliativmedizin [5]. Wie für alle Substanzen gilt jedoch, dass es keine Wirkung ohne Nebenwirkungen gibt, dazu sind die Cannabisprodukte zu unspezifisch. Für die nicht medizinische Indikation ergeben sich Gefahren für das ungeborene Leben und die Verkehrssicherheit. Ferner wird die Gefährlichkeit des Cannabis für junge und heranwachsende Menschen und für solche mit psychischen Erkrankungen unterstrichen.

Die Schlussfolgerungen, die sich aus diesem Review ergeben, lauten für den medizinischen Bereich, dass es durchaus therapeutische Einsatzbereiche für Cannabisprodukte gibt, solange die Indikation sorgfältig und kritisch gestellt und regelmäßig überprüft wird – und fortlaufend eine Abwägung von Nutzen und Risiken erfolgt. Was die Diskussion um eine Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken angeht, so dürfte es diese Studie den Befürwortern einer Legalisierung schwer machen. Denn alle besonders sensiblen Bevölkerungsgruppen und relevante Sicherheitsbereiche öffentlichen Lebens können durch den Cannabiskonsum deutlich negativ beeinflusst werden. Die Maßnahmen, die diese Risiken eindämmen oder beherrschen könnten, müssten sehr umfangreich erfolgen und wären höchst aufwendig, sie würden außerdem hohe Kosten verursachen. Gerade in dieser Zeit, in der in Deutschland erhebliche Umstrukturierungen des Gesundheitssystems erfolgen, von denen nicht absehbar ist, zu welchen tatsächlichen Kosten sie führen, wäre es geradezu töricht, eine weitere Büchse der Pandora zu öffnen. Denn wenn man dann nicht bereit oder willens ist, die nötigen Anstrengungen und Mittel zu investieren, um die Risiken zu beherrschen, dürfte eine Cannabis-Legalisierung mehr Probleme als Lösungen schaffen.



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Article published online:
27 February 2024

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