Laryngorhinootologie 2004; 83(11): 773-774
DOI: 10.1055/s-2004-826060
Hauptvortrag
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das freie Gewebetransplantat - Entwicklung und aktuelle Trends

The Free Tissue Transplant - Development and Present TrendsF.  Bootz
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Publication Date:
11 November 2004 (online)

In der Kopf-Hals-Region ist die Verfügbarkeit von Gewebe für den Defektverschluss nach Tumorresektion, nach Traumen und bei Fehlbildungen häufig eingeschränkt, jedoch sowohl funktionell als auch ästhetisch von großer Bedeutung.

Schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts erkannte Seidenberg die Notwendigkeit der chirurgischen Behandlung des Hypopharynx- und zervikalen Ösophaguskarzinoms, da die bis dahin durchgeführte alleinige Strahlentherapie zu schlechten Ergebnissen führte. Das Problem der operativen Therapie war jedoch die fehlende Rekonstruktionsmöglichkeit bei einer Tumorexstirpation mit weiten Resektionsrändern. Er schlug zu diesem Zwecke den Einsatz von revaskularisiertem Jejunum vor. In einer experimentellen Arbeit an Hunden hat er die Technik der Jejunum-Transplantation erarbeitet und versuchte seine im Tierexperiment an Hunden gewonnene Erfahrung klinisch umzusetzen. Am 30. Juli 1957 operierte er einen 63-jährigen Patienten mit einem Rezidiv eines Ösophaguskarzinoms nach primärer Strahlentherapie und setzte ihm ein Gefäß anastomosiertes Jejunum-Interponat ein. Leider verstarb der Patient am fünften postoperativen Tag an einem zerebrovaskulären Insult. Die Autopsie zeigte jedoch ein regelrechtes Jejunum-Interponat mit durchgängigen Gefäßen ohne Pharynxfistel. Vier Jahre später beschrieben Roberts und Douglass den ersten erfolgreichen Ersatz des zervikalen Ösophagus und des Hypopharynx beim Menschen mit Hilfe eines revaskularisierten freien Jejunum-Segmentes.

Ein großer Fortschritt in der Rekonstruktiven Chirurgie des Kopf-Hals-Bereiches wurde durch die Systematisierung der Gewebetransplantate durch McGregor 1963 gemacht. McGregor unterschied zwei verschiedene Arten von Lappen, und zwar den „Random-pattern-flap” und den„Axial-pattern-flap”. Der „Axial-pattern-flap”, der eine anatomisch definierte und konstante arterio-venöse Gefäßversorgung besitzt stellt das Charakteristikum der gestielten und der freien Transplantate dar. Die erste klinische Anwendung fand der „Axial-pattern-flap” in Form eines gestielten Stirnlappens zur Rekonstruktion der Mundhöhle. Dies wurde durch eine erhebliche ästhetische Beeinträchtigung erkauft. Ein weiterer „Axial-Pattern-Flap” wurde von Bakamjian 1965 vorgestellt, und zwar der Deltopektorallappen. Dieser Lappen wurde für mehr als ein Jahrzehnt zum Standard in der Rekonstruktiven Chirurgie des Kopf-Hals-Bereiches.

In den 70er-Jahren wurden die ersten freien revaskularisierten Transplantate in größerer Zahl klinisch eingesetzt. O’Brien u. Mitarb. beschrieben 1973 und Panje 1977 den Leistenlappen an der A. circumflexa ileum superficialis. Obwohl dieses Transplantat in der Rekonstruktiven Chirurgie des Kopf-Hals-Bereiches primär erfolgreich war, konnte es sich aufgrund seiner Nachteile wie kurzer, inkonstanter Gefäßstiel und großes Volumen nicht durchsetzen. Während derselben Zeit wurde der Dorsalis-pedis-Lappen von McCraw und Furlow (1975) beschrieben, der z. T. auch mit dem Os metatarsale II zur knöchernen Rekonstruktion des Unterkiefers entnommen wurde. Dieses Transplantat erwies sich gegenüber dem Leistenlappen als sicherer mit einem zuverlässigen und langen Gefäßstiel und größerem Gefäßdurchmesser. Aufgrund der hohen Entnahmemorbidität wird dieses Transplantat heute nicht mehr eingesetzt.

Mitte der 70er-Jahre wurde der mikrovaskuläre Gewebetransfer durch viele Publikationen zwar relativ bekannt, konnte sich jedoch aufgrund der aufwändigen Technik und der damit verbundenen Komplikationen insbesondere bei der Anastomosierung der kleinen Gefäße nicht durchsetzen. Auf der Suche nach neuen rekonstruktiven Techniken kam man wieder auf die gestielten Lappen zurück, die sich als sehr zuverlässig erwiesen und den mikrovaskulären Gewebetransfer in den Hintergrund drängten. Bald entwickelten sich v. a. der von Ariyan 1979 beschriebene Pectoralis-major-Lappen, aber auch der gestielte Latissimus-dorsi-Lappen zu den Standardinstrumenten der Rekonstruktiven Chirurgie des Kopf-Hals-Bereiches.

Da gestielte Transplantate deutliche Einschränkungen aufwiesen, beschäftigten sich mehrere Arbeitsgruppen wieder mit freien Transplantaten, deren Vorteil sie in der Möglichkeit der situationsangepassten Rekonstruktion sahen. 1979 beschrieb Taylor den revaskularisierten Beckenkamm an der A. circumflexa ileum profunda, der sich zu einem Standardtransplantat zur Rekonstruktion des Unterkiefers entwickelt hat und heute noch in dieser Form verwendet wird. Die Fibula war jedoch der erste Knochen, der mit Erfolg als vaskularisiertes Transplantat eingesetzt wurde, und zwar zur Überbrückung ausgedehnter Langknochendefekte, wie von Taylor bereits 1975 berichtet. Zur Rekonstruktion des Unterkiefers wurde dieses Transplantat allerdings erst in den letzten Jahren eingesetzt.

Die Bedeutung des Rectus-abdominis-Lappens, der sich v. a. in den USA zum „Arbeitspferd” der Rekonstruktiven Chirurgie entwickelte, wurde v. a. von Brown u. Mitarb. bereits 1975 erkannt. Dieser Lappen fand bisher in der Kopf- und Halschirurgie im deutschsprachigen Raum wenig Anwendung. 1980 beschrieb Dos Santos den Skapulalappen und 1982 Nassif den Paraskapulalappen, beide an der A. circumflexa scapulae. Auch diese Transplantate finden in der Kopf-Halschirurgie selten Anwendung. 1981 bereits berichteten die Chinesen Yang u. Mitarb. über den fasziokutanen Unterarmlappen, der 1982 von Mühlbauer u. Mitarb. außerhalb Chinas bekannt gemacht wurde. Er fand jedoch anfangs keine weite Verbreitung bei der Rekonstruktion in der Mundhöhle und im Oropharynx. Soutar berichtete bereits im Jahre 1986 über eine große Zahl von Rekonstruktionen nach Tumorresektion im Oropharynx und der Mundhöhle mit Hilfe des Unterarmlappens. Es war v. a. die anfangs als sehr hoch angesehene Entnahmemorbidität, die das Unterarmlappentransplantat als nicht adäquat erscheinen ließ. Die hohe Zahl an Spontanfrakturen des Radius hat dazu geführt, dass osteokutane Unterarmlappen bald als obsolet galten. In der Mundhöhle und im Oropharynx wurde das antimesenterisch aufgeschnittene Jejunum-Segment als Patch, das 1980 von Reuther und Steinau beschrieben wurde, insbesondere von Kieferchirurgen favorisiert, was eine weite Verbreitung des Unterarmlappens anfangs verhinderte. Die ersten klinischen Anwendungen des Jejunum-Patches wurden im Jahre 1971 von Black, Bavin und Arnold vorgenommen. Die Technik geht auf Green und Som zurück, die erstmals 1966 solche Transplantationsversuche an Hunden vornahmen. Das Jejunum-Patch wurde aufgrund seiner Schleimhautähnlichkeit und der ausgesprochen guten Modellierbarkeit favorisiert und anderen Transplantaten wie den fasziokutanen Lappen, z. B. dem Unterarmlappen, vorgezogen. Die klinische Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass das Jejunum-Patch schrumpft und im Laufe der Zeit zu funktionellen Beeinträchtigungen führt. Häufig traten v. a. in mechanisch belasteten Regionen der Mundhöhle Ulzerationen, Blutungen und Nekrosen auf. Diese negativen Eigenschaften des Jejunum-Transplantates führten zu einem Aufschwung der fasziokutanen Lappen, insbesondere des Unterarmlappen, der mechanisch gut belastbar ist, nur eine geringe Schrumpfungsneigung zeigt und fast ebenso gut modellierbar ist wie das Jejunum-Segment. Durch eine verbesserte Operationstechnik bei der Entnahme des Unterarmlappens konnte die Morbidität deutlich gesenkt werden.

Zur Rekonstruktion des Hypopharynx nach Pharyngolaryngektomie hat das Jejunum als Rohr auch heute noch einen gewissen Stellenwert. Die nicht unerhebliche Anzahl von Komplikationen sowohl in der Empfängerregion als auch an der Entnahmestelle hat jedoch auch in diesem Bereich dazu geführt, dass nach anderen Methoden gesucht wurde. Harii beschrieb als Erster die Rekonstruktion des Hypopharynx mit Hilfe eines Unterarmlappens. Unsere Arbeitsgruppe hat daran eine Modifikation vorgenommen. Der Unterarmlappen wird nicht mehr zum Rohr geformt, sondern U-förmig an die prävertebrale Faszie angeheftet, wodurch ein offenes Fallrohr entsteht, das eine regelrechte Schluckpassage erlaubt.

Zu erwähnen in der Entwicklung des mikrovaskulären Gewebetransfers ist die Methode zur Stimmrehabilitation nach Laryngektomie mit Hilfe eines Unterarmlappens, die Hagen 1990 erstmals beschrieb. Als Alternative zum Unterarmlappen hat sich in den letzten Jahren der Oberarmlappen, der erstmals 1984 von Katsaros beschrieben wurde, entwickelt. Er stellt meiner Meinung nach jedoch nur ein Ersatztransplantat dar und keine vollwertige Alternative zum Unterarmlappen. Trotz verbesserter operativer Techniken ist der mikrovaskuläre Gewebetransfer nicht in allen Fällen anwendbar, und wir müssen dann wieder auf gestielte Lappenplastiken zurückgreifen, die daher unbedingt zum operativen Repertoire jedes Kopf-Hals-Chirurgen gehören sollten.

Die Entwicklung des mikrovaskulären Gewebetransfers hat zu einer enormen Bereicherung der Rekonstruktiven Chirurgie nach Tumorresektion im Kopf-Hals-Bereich beigetragen. Heutzutage gibt es eine große, fast unüberschaubare Vielfalt an freien Transplantaten, die nicht alle für die Rekonstruktive Chirurgie des Kopf-Hals-Bereiches geeignet erscheinen. Der verantwortungsbewusste Operateur wird sich ein Repertoire an Transplantaten zulegen, mit dem es ihm möglich ist, den rekonstruktiven Anforderungen seines Fachgebietes gerecht zu werden.

Da die zur Verfügung stehenden Transplantate nicht immer den lokalen Gegebenheiten entsprechen - Schleimhaut wird z. B. durch Haut ersetzt -, wurden in den letzen Jahren hauptsächlich tierexperimentelle Untersuchungen zu präfabrizierten und prälaminierten Transplantaten vorgenommen. Beim präfabrizierten Transplantat wird Gewebe unterschiedlicher Beschaffenheit wie z. B. Knochen, Muskulatur mit einem Blutgefäßsystem im Körper in Verbindung gebracht, und nachdem dieses den Anschluss an das Gewebe gefunden hat, kann es zum Transfer entnommen werden. Beim prälaminierten Transplantat wird ein definierter Lappen, z. B. ein Muskellappen oder ein desepithelisierter Unterarmlappen, mit dem gewünschten Epithel wie z. B. Schleimhaut versehen. Nach dessen Einheilung kann das gesamte Transplantat zur Rekonstruktion herangezogen werden. Die klinische Umsetzung ist bisher nur in wenigen Fällen zufrieden stellend gelungen. Auch das tissue engineering wird in Zukunft eine Rolle spielen, nicht nur zur Herstellung des Transplantates mit unterschiedlichem Oberflächenepithel, sondern auch für die entsprechenden Anschlussgefäße.

Prof. Dr. med. Friedrich Bootz

Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde/Chirurgie ·

Sigmund-Freud-Straße 25 · 53127 Bonn

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