Laryngorhinootologie 2004; 83(11): 726-728
DOI: 10.1055/s-2004-826026
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheitsschäden durch Umwelt und Beruf

Health Disorders through Environmental and Professional FactorsH.-J.  Schultz-Coulon75. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. in Bad Reichenhall, 19. - 22. Mai 2004
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. November 2004 (online)

Die mit fast 1600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gut besuchte 75. Jahresversammlung in Bad Reichenhall stand unter dem Kongressmotto: „Gesundheitsschäden durch Umwelt und Beruf”. Sechs hervorragende und sehr lesenswerte Referate zu diesem Motto, die in einem Supplement-Band dieser Zeitschrift zusammengefasst wurden (Supplement 83. Jahrgang, Mai 2004, Seite S1 - S164), machten deutlich, wie intensiv gesundheitsmedizinische Aspekte den HNO-ärztlichen Fachbereich berühren und wie sehr sich unsere Kenntnisse auf dem Gebiet der Umweltmedizin sowohl in Bezug auf die beruflichen Belastungen als auch auf die Gefährdungen im privaten Bereich erweitert haben.

Prof. Dr. med.H.-J. Schultz-Coulon.

Von grundlegendem Interesse sind dabei die Wirkmechanismen der Inhalationsnoxen auf molekularbiologischer Ebene. Ausgehend von einem Hinweis auf HNO-relevante Inhalationsnoxen gab H. Riechelmann (Ulm) einen Überblick über die Toxikokinetik der oberen Atemwege und stellte die Wirkmechanismen von Inhalationsnoxen entsprechend dem gegenwärtigen Kenntnisstand eindrucksvoll vor.

Ergänzend schrieb N. Kleinsasser eine sehr wichtige Übersicht über die Grundzüge der toxikologischen Bewertung von inhalativen Umweltschadstoffen und erläuterte dabei die relevanten Kenn- sowie Grenzwerte und modernen Testverfahren mit besonderer Berücksichtigung solcher Methoden, die Aussagen zu Teilschritten einer Tumorentstehung geben. Sein abschließender Hinweis auf die Tatsache, dass für viele inhalative Umweltnoxen bislang noch unzureichende Risikoprofile erstellt werden konnten, markiert die Zielrichtung künftiger Forschung.

Ein drittes, für die HNO-ärztliche Praxis besonders bedeutsames Referat von Claudia Rudack (Münster) ging ausführlich und sehr übersichtlich auf die aktuellen Therapiekonzepte bei allergischen und hyperergischen Entzündungen der oberen Luftwege ein und vertiefte das Verständnis für diese Konzepte durch Schilderung ihrer Wirkmechanismen.

Ein völlig neuer Krankheitsbegriff in der Umweltmedizin, der erst Ende der 80er-Jahre geprägt wurde - die Multiple Chemical Sensitivity (MCS) - wurde vom Gastreferenten M. Schwenk (Landesgesundheitsamt Stuttgart) vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Literatur sehr sachlich und kritisch diskutiert. Aufgrund der besonderen Bedeutung dieses noch wenig bekannten, äußerst merkwürdigen Phänomens der individuellen Überempfindlichkeit gegen chemische Substanzen für die tägliche Praxis erscheint in diesem Heft eine Kurzfassung des höchst interessanten Referates. Die ätiologischen Komponenten der MCS sind nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt. Daher, so betonte der Referent, bedarf dieses Phänomen einer besonderen diagnostischen und therapeutischen Aufmerksamkeit.

Die gutachterliche Aufgabe, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer beruflichen Schadstoffexposition und einer Malignomerkrankung der oberen Luftwege zu suchen und ggf. festzustellen, wirft zahlreiche Fragen auf und bereitet nicht selten Schwierigkeiten. Daher ist Th. Deitmer (Dortmund) sehr zu danken für seine ausgezeichnete Zusammenstellung der verschiedenen Rechtsbereiche für Gutachten im Zusammenhang mit Berufskrebserkrankungen durch Inhalationsnoxen und der gutachterlich relevanten Krankheitsbilder. Besonders wertvoll ist am Schluss des Referates der Vorschlag für eine sinnvolle Strukturierung derartiger Gutachten.

Das 6. Referat zum Kongressmotto von S. Plontke und H. P. Zenner behandelt aktuelle Aspekte der Umweltnoxe Lärm in Freizeit und Beruf - immer noch mit die häufigste Ursache für erworbene Innenohrschäden. Moderne Lärmquellen, die gegenwärtigen Vorstellungen von der Pathogenese der Lärmschädigung, endogene protektive Mechanismen im auditorischen System und Präventionsmöglichkeiten werden ebenso ausführlich und didaktisch glänzend angesprochen wie protektive und kurative Therapieansätze.

Hinzugefügt sei, dass die Referate mit einer Ausnahme (Th. Deitmar) ins Englische übersetzt wurden und als englischsprachiger Referateband mit dem Titel „Current Topics of Otorhinolaryngology - Head and Neck Surgery, Volume 3, Environmental and Occupational Health Disorders” online über die Internetadressen www.egms.de und www.hno.org abrufbar sind.

Neben diesen Kongressreferaten spannte sich der Themenbogen von 12 Hauptvorträgen, 5 Rundtischgesprächen und über 600 Einzelvorträgen, wissenschaftlichen Postern und Multimediapräsentationen breit über das weit gefächerte HNO-Fach. Im vorliegenden Heft werden die Kurzfassungen von 6 dieser 12 Hauptvorträge publiziert:

Dipl.-Ing. T. Steffens (Regensburg) orientiert über die vorteilhafte und sinnvolle Nutzung der modernen digitalen Hörgerätetechnik, wobei er durchaus Schein und Sein zu trennen weiß. Selbst die raffinierteste Digitaltechnik ist keineswegs frei von elektroakustischen Übertragungsproblemen, die zumindest im Prinzip dem Hörgeräte verordnenden Arzt bekannt sein sollten. In unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Beitrag moderierte R. Probst (Basel) in Bad Reichenhall das in den letzten Jahren zunehmend diskutierte Problem des Qualitätsmanagements in der Hörgeräteversorgung zusammen mit 5 kompetenten Gesprächspartnern. In diesem Heft fasst Probst den Inhalt dieses Rundtischgespräches zusammen.

R. Schönweiler (Lübeck) diskutierte die bislang sehr widersprüchlich gesehene Bedeutung einer chronischen Mittelohrschwerhörigkeit für die Sprachentwicklung dahingehend, dass entsprechend den Ergebnissen aktueller Metaanalysen schon geringgradige Mittelohrschwerhörigkeiten den Spracherwerb stören können, besonders bei Vorliegen weiterer sprachentwicklungshemmender Komorbiditäten. Diese Erkenntnis beeinflusst notwendigerweise die therapeutischen Entscheidungen bei seromuköser Otitis media vor allem in Hinsicht auf die Toleranzgrenze der konservativen Beobachtungszeit.

Ergänzend zu diesem ebenfalls sehr bemerkenswerten Vortrag diskutierten 5 Fachleute über die oft gestellte Frage, inwieweit sozio-kulturelle Faktoren die Sprachentwicklung beeinflussen und welche therapeutischen bzw. prophylaktischen Maßnahmen diesbezüglich nützlich sein könnten. Die Moderatorin Annerose Keilmann (Mainz) gibt im vorliegenden Heft ein Resümee der z. T. weit in die Sozialpsychologie und Pädagogik hineinreichenden Fragen.

J. Alberty (Münster), der die DRG-Kommission der Deutschen HNO-Gesellschaft in der Nachfolge von K. Hörmann leitet, berichtete über die Auswirkungen und über erste Erfahrungen mit dem neuen G-DRG-Fallpauschalensystem. Die zum Teil ungenügende Abbildung HNO-ärztlicher Leistungen konnte durch Aktivitäten der Kommission teilweise bereits deutlich gebessert werden. Weitere Verbesserungen, besonders im Bereich der Tumorchirurgie, sind erforderlich, um eine angemessene Abbildung und damit kostendeckende Finanzierung HNO-ärztlicher Leistungen zu erreichen.

K. Schwager (Würzburg) gab einen besonders für werdende Ohrchirurgen wichtigen Überblick über die Komplikationsmöglichkeiten mikrochirurgischer Eingriffe am Mittelohr und deren chirurgisches Management. Die Mehrzahl chirurgischer Komplikationen lassen sich operativ beherrschen, bei irreversiblen Komplikationen spielt offenes und angemessenes Verhalten gegenüber dem Patienten die wichtigste Rolle.

E. Lehnhardt berichtete über eine für die Cochlea-Implantation im führen Kindesalter höchst bedeutsame Erkenntnis der letzten 10 Jahre: Im Gegensatz zum Sehrvermögen, das irreversibel geschädigt bleibt, wenn es nicht unmittelbar postnatal aktiviert werden kann, können sich die zentralen auditorischen Bahnen offensichtlich auch nach relativ lang dauernder Deprivation allein durch Stimulation über ein Cochlea-Implantat noch entwickeln. Selbst bei Implantation bis zu 3 Jahren nach der Geburt können gehörlose Kinder normale Sprachproduktion mit sehr gutem Sprachverstehen erreichen.

Der letzte in diesem Heft publizierte Hauptvortrag beschäftigt sich - auch mit Bezug zum Kongressmotto - mit einer Verbesserung der Frühdiagnostik des Larynxkarzinoms. C. Arens (Gießen) beleuchtet Möglichkeiten und Grenzen der indirekten und direkten Fluoreszenzlaryngoskopie und stellt in Aussicht, dass sich mit Hilfe dieser Methode die exakte Frühdiagnostik des Larynxkarzinoms unterstützen lässt.

Die Kurzfassungen der übrigen 6 Hauptvorträge (A. Dietz: Epidemiologie des Kehlkopfkarzinoms; F. Bootz: Das freie Gewebstransplantat - Entwicklung und aktuelle Trends; S. Remmert: Rekonstruktionsmöglichkeiten bei großen Gewebsdefekten im Kopf/-Halsbereich; M. M. Hess: Stimmfunktionsdiagnostik in Klinik und Praxis; M. Westhofen: Hörgeräteversorgung - Verstehen der Verständnisstörung; R. Laszig: Fehler und Gefahren bei der Cochlea-Implantation; sowie Zusammenfassung der Rundtischdiskussionen (M. Vollrath: Diagnostische und therapeutische Probleme bei frühkindlichen Laryngotrachealstenosen; H. E. Eckel: Rehabilitationskonzepte nach Laryngektomie; A. Berghaus: Die „schwierige” Nase)) werden zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Zeitschrift publiziert.

Abschließend bleibt dem Autor in seiner Rolle als Past-Präsident noch das Bedürfnis, allen Autorinnen und Autoren für ihre hervorragenden Beiträge, die für das gute Gelingen dieser Jahresversammlung maßgeblich verantwortlich waren, sowohl im Namen der Deutschen HNO-Gesellschaft als auch persönlich herzlich zu danken.

Neuss, im November 2004

Prof. Dr. med. H.-J. Schultz-Coulon

HNO-Heilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie, Plastische Operationen · Lukaskrankenhaus

Preußenstraße 84 · 41456 Neuss

eMail: hschultzcoulon@lukasneuss.de

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