ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2008; 117(4): 129
DOI: 10.1055/s-2008-1076776
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der weiße Fleck

Cornelia Gins
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Publication Date:
29 April 2008 (online)

Deutlich mehr Pflegefälle. Bis 2030 ein Anstieg um 58 %. Diese Meldung konnte man vor nicht allzu langer Zeit in der Zeitung lesen. Aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft ist mit dieser Zunahme zu rechnen, teilte das Statistische Bundesamt mit. In 22 Jahren werde es nach der demografischen Modellrechnung 3,4 Mio. Pflegebedürftige geben, heute sind es 2,1 Mio. Die Vorausberechnungen legen nahe, dass die Zahl der über 60-jährigen Deutschen bis 2030 von 20,5 um 38 % auf 28,4 Mio. wachsen wird. Die Gruppe der über 80-Jährigen soll sogar um 73 % von 3,6 Mio. auf 6,3 Mio. steigen. Die Vergreisung der Gesellschaft würde sich auch in der künftigen Altersstruktur pflegebedürftiger Menschen niederschlagen, so das Bundesamt. Heute sind 53 % der Betroffenen

80 Jahre oder älter. 2030 könnten es 65 % sein. Neben den Pflegefällen sind auch die Auswirkungen auf die Behandlung in Krankenhäusern hochrechenbar. Die Kliniken müssten sich auf einen Anstieg jährlicher Behandlungen um 12 % einstellen, konstatierte das Amt. Vor allem würde verstärkt mit alterstypischen Erkrankungen zu rechnen sein: Herz- Kreislauferkrankungen sollen um 34 % und Krebserkrankungen um 21 % zunehmen.

Wie passen nun diese Prognosen zu folgendem Szenario: Gottlob, wir werden älter, bleiben dabei gesund, da wir durch Aufklärung und Vorsorge bewusster leben. Wir treiben Sport, essen ausgewogen und sind dank Yoga und Pilates mental völlig ausgeglichen. Mit 80 fühlen wir uns fit wie der berühmte Turnschuh. Müssen wir ja auch, da die Kinder, die wir erst im hohen Alter in die Welt gesetzt haben, uns noch brauchen. Wir haben alle Anti-Aging-Programme ausprobiert, haben alle Falten wegspritzen lassen, die Zähne sind fest, ob eigen oder künstlich, und genug Geld haben wir natürlich auch. Was heißt hier pflegebedürftig?

Das Bonmot besagt: Die Steigerung von Lüge ist Statistik. Aber ist sie nicht vielleicht doch die Realität? Die Pressemeldung bestätigt in der Tat meine Wahrnehmung, dass dort ein erhebliches Problem auf die Medizin und Zahnmedizin zukommen wird. Nicht das erste Mal nehme ich eine Pressenachricht zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass wir auch in der Zahnmedizin mit einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit unserer Patienten rechnen müssen, was Auswirkungen auf Prophylaxe, Therapie und Nachsorge haben wird. Die Multimorbidität, das soziale Gefälle mit den bekannten Auswirkungen auf die Zahngesundheit wird zunehmen. Sicher, es handelt sich nur um eine Hochrechnung, aber ignorieren sollte man sie nicht. Menschen neigen dazu, sich einen weißen Fleck zu konstruieren, wenn etwas sein kann, was nicht sein darf. Forever young wäre toll, ist aber leider völlig unrealistisch.

Dr. med. dent. Cornelia Gins

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