Notfall & Hausarztmedizin 2007; 33(12): 555
DOI: 10.1055/s-2008-1040328
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Demenz ist ein Zukunftsthema

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Publication Date:
21 January 2008 (online)

Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft mit gänzlich neuer Altersstruktur. Nicht nur, dass unsere Bevölkerungszahl sinkt; im Jahr 2050 werden wir doppelt so viele Menschen über 60 wie unter 20-Jährige haben. Alter birgt Chancen, Potenziale und Gewinn. Die Mehrzahl unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger bringt sich aktiv in die Gestaltung unserer Gesellschaft ein; auf ihr Wissen und Engagement können und wollen wir nicht verzichten. Aber wir müssen auch die andere Seite sehen: Hohes Alter ist ein Risikofaktor für Demenzerkrankungen. In Deutschland gibt es rund 1,1 Mio. Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Prognosen sagen, dass im Jahr 2050 mit mehr als 2 Mio. Betroffenen zu rechnen ist. Demenz ist inzwischen eines der wichtigsten gesundheitspolitischen, aber auch gesellschaftspolitischen Themen der Zukunft.

Die Bundesregierung hat deshalb in diesem Jahr entschieden, mehr Mittel für die Forschung zum Thema Demenz und für die Verbesserung der Pflege Betroffener zur Verfügung zu stellen. In der Forschung geht es vordringlich um die Vernetzung von Forschungsergebnissen und um innovative Forschung mit dem Ziel, die Krankheit zu heilen oder zumindest das Voranschreiten deutlich zu verlangsamen. Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen müssen verbessert werden. Zur Reform der Pflegeversicherung gehören daher auch die Hilfen für Demenzkranke: Der jährliche Betrag für das persönliche Budget wird um etwa das Fünffache erhöht, auch die Voraussetzungen, um den Betrag zu erhalten, werden erleichtert.

Gesetze und Geld sind jedoch, wenn es um Demenz geht - wie an vielen anderen Stellen auch - nur eine Seite der Medaille. Wir haben es mit Menschen zu tun, mit Mitmenschen. Demenz stellt uns vor besondere Herausforderungen im Umgang mit Menschen. Demenzkranken gehen ihre Erinnerung, ihr Realitätssinn und ihre Fähigkeit, mit Worten zu kommunizieren, verloren. Sie leben mit fortschreitender Krankheit mehr und mehr in einer eigenen Welt, in die vorzudringen es für Außenstehende immer schwerer wird. Wir wissen bislang wenig über diese innere Welt. Was wir allerdings sicher wissen, ist, dass die Betroffenen und die pflegenden Angehörigen gleichermaßen leiden, wenn es nicht gelingt, Zugänge zu finden und Brücken der Verständigung zu bauen.

Was vielfach unterschätzt wird: Demenzkranke Menschen verfügen über erstaunliche emotionale Ressourcen, die Therapeuten und Pflegende nutzen können, um Lebensqualität zu sichern. Vielfach gelingt es im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit, über biografische Ansätze, Musik, aber auch über religiöse Impulse mit den Betroffenen zu kommunizieren. Betreuerinnen und Betreuer müssen einfühlsam reagieren, zuhören und beobachten, um zu verstehen und Wünsche erfüllen zu können. Demenzkranke benötigen besondere Formen der Pflege, um sich wohl zu fühlen. Darum muss man wissen, das muss man können, wenn man mit Betroffenen zu tun hat.

Aus Ihrer täglichen Arbeit wissen Sie, dass der Hausarzt bzw. die Hausärztin in der Versorgung von Menschen mit Demenz und im Kontakt mit ihren Angehörigen eine große Rolle spielt. Hausärzte und medizinisches Personal sind daher wichtige Adressaten, wenn es darum geht, den kompetenten Umgang mit Demenzkranken zu lernen und dazu zu befähigen. Dies erkennend, haben sich in den letzten Jahren einige universitäre Einrichtungen auf den Weg gemacht, neue Ansätze der Auseinandersetzung mit Demenz und der Fortbildung zu entwickeln.

In diesem Sonderheft möchte ich Sie auf das von der Medizinischen Fakultät an der Universität Leipzig entwickelte Programm „AGING game” hinweisen. Es ermöglicht, am eigenen Leib zu erleben, wie sich demente Patienten während der Behandlung durch Arzt und Pflegekraft fühlen. Es ist ein Programm, in dem die so bedeutsamen Einschränkungen des Bewusstseins durch Demenz simuliert und so von Gesunden erfahren werden können. Dieses Erleben macht es dann leichter, Demenz „nachzuvollziehen”, das Verhalten von Demenzkranken zu verstehen und angemessen mit ihnen umzugehen. „AGING game” leistet einen Beitrag, Demenzkranke würdevoll zu behandeln. Denn sie haben - wie jeder andere Patient - ein Recht auf gute und menschenwürdige Hilfe und Pflege. Am besten machen Sie sich selbst ein Bild vom praktischen Nutzen. Nehmen Sie Kontakt mit der Universität auf, lassen Sie sich von den Kolleginnen und Kollegen des Projektteams über weitere Einzelheiten informieren und testen Sie es.

Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre dieses Sonderhefts und beim Dementia Fair Congress 2008 in Leipzig, für den ich sehr gern wieder die Schirmherrschaft übernommen habe, viele nützliche Anregungen. Wie gesagt: Demenz ist in unserer Gesellschaft des zunehmenden Alters ein Zukunftsthema. Machen wir es zu unserem gemeinsamen Anliegen, demenzkranken Menschen als Mitmenschen zu begegnen und sie besser als bisher zu versorgen!

Dr. Ursula von der Leyen

Bundesministerin für Familie, Senioren,Frauen und Jugend

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