Notfallmedizin up2date 2008; 3(4): 301-302
DOI: 10.1055/s-2008-1039215
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Deutschland ein Sommermärchen?

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Publication Date:
08 December 2008 (online)

Wer erinnert sich nicht gern an den Sommer 2006, in dem die deutsche Fußballnationalmannschaft wie Phönix aus der Asche empor stieg und ein phantastisches Sommermärchen wahr werden ließ. Medienvertreter und Fans hatten gleichermaßen Tränen in den Augen, als sie miterleben durften, wie eine zuvor in der Öffentlichkeit heftig gescholtene Nationalmannschaft die ihr zugeschriebenen Tugenden wie Beißen, Kämpfen und Quengeln für einen Moment über Bord warf und stattdessen einen selten da gewesenen, unbekümmerten Offensivfußball auf den Rasen zauberte. Über vier unbeschreiblich schöne Wochen hinweg begeisterte uns unsere Fußballnationalmannschaft mit einer mitreißenden sportlichen Leistung, überragendem Teamgeist und großer Fairness. Sie versetzte das Land in einen wahren Freudentaumel und ließ den Traum vom Weltmeistertitel in greifbare Nähe rücken.

Während sich die Fußballnationalmannschaft auf die Weltmeisterschaft vorbereitete, begann man in Bayern an 15 Notarztstandorten in München und Umgebung sowie an 6 Rettungshubschrauberorten und 3 Intensivmobilen mit der Umsetzung einer markanten Studie. Die Hypothese war, dass die Anzahl an kardialen Ereignissen während der Fußballweltmeisterschaft erhöht sein würde. Die bemerkenswerten Ergebnisse der Studie wurden Anfang dieses Jahres hochrangig im New England Journal of Medicine (NEJM 2008; 358: 475–483) publiziert.

Untersucht wurde der Zeitraum vom 1. Mai bis zum 31. Juli 2006. Als Vergleichszeiträume wurden mit Mai bis Juli 2003 und 2005 Jahre ausgewählt, in denen keine Fußballgroßereignisse stattfanden. Ausgewertet wurde die Rate an kardiale Ereignisse wie Myokardinfarkt mit und ohne ST‐Veränderungen, instabile Angina, Arrhythmien, Herz- und Kreislaufstillstand mit kardiopulmonaler Reanimation und der Einsatz von Defibrillatoren. Das Studienkollektiv beschränkte sich auf deutsche Anwohner aus der Umgebung, um den Einfluss von zugereisten Fans und Touristen zu eliminieren.

Insgesamt wurden 4 279 Patienten mit kardialen Ereignissen in die Studie eingeschlossen. Abbildung [1] verdeutlicht, dass während der Fußballweltmeisterschaft 2006 vom 9. Juni bis zum 9. Juli eine erhöhte Inzidenz an kardialen Ereignissen vorlag. In 6 von 7 Spielen der deutschen Nationalmannschaft wurden bei deutschen Anwohnern eindeutige kardiale Sensationen aufgedeckt. Spiel 2 mit dem „last minute goal“ oder Spiel 5 mit dem Elfmeterschießen und Spiel 6, wo Deutschland erstmals verlor und das Finale verpasste, ragen hinsichtlich der Anzahl kardialer Ereignisse deutlich heraus. An den 24 Tagen Fußballweltmeisterschaft ohne deutsche Beteiligung gab es keine vergleichbaren Spitzen, bis auf das Endspiel. Betroffen waren mehr Männer als Frauen und mit einer besonderen Häufung auch jüngere Menschen als üblich. Besonders gefährdet waren Personen mit einer bekannten koronaren Herzkrankheit. Es gab eine klare Korrelation zwischen Beginn des Fußballspiels und Beginn der Symptome innerhalb der ersten 2 Stunden.

Abb. 1 Kardiovaskuläre Ereignisse während der Fußball-WM 2006 verglichen mit den gleichen Monatszeiträumen 2003 und 2005 (Quelle: © 2008 Massachusetts Medical Society, alle Rechte vorbehalten).

1 Deutschland : Costa Rica = 4 : 2,

2 Deutschland : Polen = 1 : 0,

3 Deutschland : Ecuador = 3 : 0,

4 Deutschland : Schweden = 2 : 0,

5 Deutschland : Argentinien = 5 : 3 nach Elfmeterschießen,

6 Deutschland : Italien = 0 : 2 nach Verlängerung,

7 Deutschland : Portugal = 3 : 1,

8 Frankreich : Italien = 4 : 6 nach Elfmeterschießen (nach NEJM 2008; 358: 475–483).

Diese prospektive Studie sah keine präventiven Interventionen vor. Wir können also nur spekulieren, ob zukünftig vor solchen Fußballereignissen insbesondere Personen mit bekannter koronarer Herzkrankheit Medikamente wie Betablocker, Statine oder Aspirin erhalten sollen. In jedem Falle gilt es aber im Rahmen der allgemeinen Lebensführung mit einem besonderen Augenmerk auf Dinge wie Schlafmangel, „junk food“, übermäßigen Alkoholkonsum und Rauchen als zusätzliche Risikofaktoren für ein kardiales Ereignis zu achten.

Diese Empfehlungen zur allgemeinen Lebensführung und Risikoreduzierung kardialer Ereignisse sollten aber auch die Notärzte in der täglichen Routine beachten, damit auch sie noch an zukünftigen Sommermärchen wohlbehalten und vielleicht mit Freudentränen in den Augen teilhaben können.


Prof. Dr. Jens Scholz, Kiel

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