physioscience 2008; 4(3): 105-106
DOI: 10.1055/s-2008-1027718
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was macht eigentlich die Forschung an den Fakultäten für Physiotherapie?

K.-F Heise1
  • 1Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
15 August 2008 (online)

In Deutschland definieren das Hochschulrahmengesetz bzw. die Hochschulgesetze der Länder gleich zuoberst den Auftrag der Hochschulen folgendermaßen:

„Die Hochschulen dienen entsprechend ihrer Aufgabenstellung der Pflege und der Entwicklung der Wissenschaften […] durch Forschung, Lehre, Studium und Weiterbildung [...]. Sie bereiten auf berufliche Tätigkeiten vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und wissenschaftlicher Methoden […] erfordern” [2].

Neugierig suche ich also auf den Internetseiten der zahlreichen Physiotherapiestudiengänge in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach den Forschungsberichten und Projektbeschreibungen. Mit wenigen Ausnahmen suche ich allerdings vergeblich. Gibt es die physiotherapeutische Forschung an den Fakultäten nicht – bisher also nur Lehre ohne Forschung?

Ich bleibe hartnäckig und frage nach bei denjenigen, die es wissen müssen. Eine kleine Erhebung ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Repräsentativität, in einem Convenience sample gewissermaßen. (Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Professorinnen und Professoren Friederike Baeumer, Wiebke Göhner, Stefan Greß, Ruth Haas, Heidi Höppner, Astrid Schämann, Erwin Scherfer und Christoff Zalpour, dafür dass sie meine Fragen so bereitwillig beantworteten und ihre Visionen mitteilten).

Zunächst interessiert mich der Status quo der Forschung an den physiotherapeutischen Fakultäten und wie sie realisiert wird. Hier zeigt sich ein Spektrum von „Nein, gegenwärtig haben wir nur viele Ideen im Kopf. Wir sind noch zu sehr mit dem Aufbau des eigentlichen Studiengangs beschäftigt. Zeitliche Ressourcen für den Aufbau von Forschungskapazitäten sind kaum vorhanden” bis hin zu mehreren parallel laufenden „ernst zu nehmenden”, durch hochschulinterne oder Drittmittel geförderten Projekten.

Inhalte der Forschung sind an vielen Standorten der Versorgungsforschung, der Forschung zur Professionalisierung und dem Berufsfeld zuzuordnen. Nur wenige Projekte befassen sich mit der Untersuchung von Effekten und Effektivität therapeutischer Interventionen. Mancherorts werden die Forschungsprojekte im Einzelkämpferdasein oder mit der „Eichhörnchen-Methode [...] (hier ein Assessment übersetzen, dort eine Einzelfallanalyse durchführen, hier ein Forschungssymposium) und allmählich zu Größerem übergehen”, realisiert. Andere verfügen bereits über Ressourcen zur Beschäftigung wissenschaftlicher Mitarbeiter, die allerdings selten hauptamtlich für die Forschung angestellt sind, wie es an der Zürcher Fachhochschule in Winterthur der Fall ist. Bemerkenswert sind hier und da beginnende Kooperationen innerhalb der Hochschulen mit Gesundheitsdienstleistern sowie der Industrie. In Osnabrück ist die Forschung beispielsweise in fakultätsübergreifende Kooperationen mit Ingenieuren, Medieninformatikern und Musikwissenschaftlern eingebettet, und auch in der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven bestehen interinstitutionelle Kooperationen.

Das Einwerben zusätzlicher finanzieller Ressourcen ist sehr schwierig, insbesondere für Neulinge auf dem Parkett, die sich noch keinen Namen gemacht haben. Stellen doch die etablierten Forschungsgebiete nicht nur die Konkurrenz, sondern letztendlich auch die entscheidungstragenden Instanzen bei der Verteilung der Mittel dar.

Umso eindrucksvoller sind die Ergebnisse in meiner kleinen Stichprobe: Die Fachhochschule Kiel konnte finanzielle Mittel durch Kooperation z. B. mit der Deutschen Rheuma-Liga und die Fachhochschule Osnabrück Drittmittel vom Bundesministerium für Gesundheit sowie dem niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung einwerben. Die Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven war bei der VW-Stiftung und bei der Arbeitsgruppe Innovative Projekte des Ministeriums für Wissenschaft und Kultur in Niedersachsen erfolgreich.

Für alle wissenschaftlichen Arbeitsgruppen ist das Einwerben von Drittmitteln unerlässlich und gehört zum mühsamen täglichen Geschäft. War man dann endlich erfolgreich, sollte nicht mit Eigenlob und positiver Selbstdarstellung gespart werden. Es ist wichtig, diese Ergebnisse verstärkt nach außen zu kommunizieren – für die betreffende Arbeitsgruppe und für die zukünftigen Antragsteller –, denn es gilt, sich bei den potenziellen Dritt- oder Viertmittelgebern zunehmend Gehör zu verschaffen. Mein Vorschlag wäre, die erfolgreich eingeworbenen Gelder und die laufenden Projekte nicht zu weit hinten auf der Homepage zu verstecken, sondern insbesondere in die Pflege und sorgfältige Aktualisierung der Internetauftritte zu investieren.

Fragt man nach den Wunschvorstellungen und Visionen für ein ideales Forschungsumfeld, so unterscheiden sich diese kaum voneinander: „Natürlich brauchen wir Förderprogramme, die uns miteinbeziehen, oder aber auch geförderte Forschungsverbünde”, „dass man im Aufbau von Forschungseinheiten eine gute Vorschubfinanzierung über die Hochschulen etabliert”, „eine wirklich ernstzunehmende Forschungsstiftung”, „internationale Kontakte”, „eine interdisziplinär ausgerichtete Arbeitsgruppe mit Zugang zu ambulanten und klinischen Einrichtungen”, „langfristige Forschungsprojekte mit personeller Kontinuität” und „wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden”.

Ein wesentlicher Aspekt ist der Unterschied zwischen universitärer und fachhochschulverorteter Forschung. Hier ist der Wunsch nach Ebenbürtigkeit und Anerkennung bei allen gleichermaßen vorhanden. Dazu gehört eine forschungsförderlichere Regelung der Lehrverpflichtung und administrativen Tätigkeiten. Dabei wird auch deutlich, welche Faktoren sich momentan als Hindernisse für die Forschung an den Fakultäten darstellen. Im Wesentlichen sind das die zeitaufwendigen Aufbauarbeiten an den Standorten der Studiengänge, die „mangelnde Forschungstradition”, die „nicht akademische Verortung” bzw. „Nichtzugehörigkeit zur Scientific Community, „die mangelnde Akzeptanz für die Notwendigkeit von Forschung im eigenen Berufsstand”, „zu wenige Berufsangehörige, die so weit qualifiziert sind, dass sie eigenständig Forschung leiten könnten”, unzureichender Kontakt zwischen Hochschulen und Berufsverbänden, „um die Forschungsergebnisse politisch im Gesundheitssystem wirksam werden zu lassen”, „das Fehlen einer Ethikkommission, die für physiotherapeutische Forschung zuständig ist”.

Im Großen und Ganzen besteht dahingehend Konsens, dass die „Konkurrenz unter den Hochschulen” eher hinderlich ist und es stattdessen Kooperationen und Netzwerke geben müsste und man optimalerweise Synergien identifizieren und Vernetzung untereinander zu konkreter Zusammenarbeit und interdisziplinärem Austausch nutzen sollte.

Wie also ließe sich Forschung an den Fakultäten konkret fazilitieren?

War es falsch, sich so energisch von der Mutterdisziplin Medizin loszusagen? Zahlen die stark sozialwissenschaftlich ausgerichteten Physiotherapiestudiengänge jetzt dafür den Preis, indem ihnen der Zugang zum Feld fehlt? Wäre eine grundsätzliche Verortung dieser Studiengänge an den medizinischen Fakultäten die Lösung für die Probleme der Beschaffung finanzieller Ressourcen und dem immer stärker werdenden Druck, ein Ethikvotum für jegliche Forschung einholen zu müssen (siehe [1])? Könnte man sagen, dass die Studiengänge mit bestehenden Assoziationen zu medizinischen Fakultäten oder Medizinern in ihrem Lehrpersonal erfolgreicher bei der Drittmitteleinwerbung sind? Wären die Bedingungen leichter, wenn es speziell auf physiotherapeutische Projekte zugeschnittene Fördergelder gäbe? Mit welchem Volumen könnte ein Projekt wohl gefördert werden, wenn es eine Stiftung aus den Reihen unserer Berufsgruppe gäbe?

Eines scheint klar – und das lässt sich auch weniger provokativ an dieser Stelle formulieren: Der Bedarf an Netzwerken und die Kooperation von Interessengruppen, innerhalb der Disziplin aber auch interdisziplinär, regional und international ist unumgänglich, um die physiotherapeutische Forschung erfolgreich zu positionieren und konkurrenzfähig zu machen. Ein Beispiel dafür stellt der eidgenössische Forschungsverbund Therapeutic Exercise Sciences dar.

Schließlich ist es unabdingbar, dem wissenschaftlichen Nachwuchs bei der Weiterqualifikation die Steine aus dem Weg zu räumen. Eine Promotion ist immer noch eine Ausnahme, was nicht zuletzt an der Verortung der Studiengänge an den Fachhochschulen liegt. Hinzu kommt, dass es kaum brauchbare Fördergelder für Promovierende gibt. Thematische Ausrichtungen und Altersgrenzen sind nur 2 der zahlreichen Hinderungsgründe. Es bedarf der Etablierung postgradualer Ausbildungssysteme, die an den Instituten der Lehre zu finden sind und eine Ausbildung im Rahmen von Interessengruppen ermöglichen. Meines Erachtens lassen sich nur dann Forschung und Lehre auch effektiv und gewinnbringend verbinden. Der Bedarf wächst mit den zunehmenden Absolventenzahlen.

Natürlich sehe ich die strukturellen und die Grenzen der persönlichen Kapazität der derzeit Agierenden, allerdings geht es unseren wissenschaftlichen Kollegen in den etablierten Forschungsdisziplinen nicht anders. Wissenschaft war und ist schon immer ein Geschäft mit hohem persönlichem Einsatz, mit Arbeit außerhalb der tariflich festgelegten Zeiten und mit einem hohen Maß an eigener Verantwortung für das Gelingen der Forschungsarbeit. Man kann davon ausgehen, dass sich das wohl kaum ändern wird.

Ich fürchte, es ist ein Fehler, wenn die Lehre vor der Forschung in den Studiengängen etabliert wird. Dem Aspekt der Pflege und Entwicklung unserer Wissenschaft muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt und seine Notwendigkeit für die Entwicklung unserer Profession als wissenschaftliche Disziplin wahrscheinlich mit noch mehr Nachdruck betont werden.

Die hier angeführten Beispiele zeigen, dass die aktuelle physiotherapeutische Forschungssituation weit entfernt von Frustration oder Kapitulation ist. Meiner Meinung nach sind die Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft, und an Engagement mangelt es gewiss nicht.

In diesem Sinne hoffe ich, mit der kleinen Umfrage eine engagierte Diskussion anzufachen, die vor allem keine Diskussion in oder zwischen unterschiedlichen Elfenbeintürmen ist.

Literatur

  • 1 Brötz D. Ethische Gesichtspunkte wissenschaftlicher Untersuchungen. Editorial.  physioscience. 2008;  4 53-54
  • 2 Hochschulrahmengesetz (HRG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Januar 1999 (BGBl I S.18), zuletzt geändert durch Art.2 des Gesetzes vom 12. April 2007 (BGBl. I S.506), Kap. 1, § 2. 

Kirstin-Friederike Heise

PT, BSc, MSc

Email: kirstin.heise@gmx.de

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