PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(4): 387-388
DOI: 10.1055/s-2007-986279
Resümee

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Borderline-Therapie - weitgehend grenzenlos

Michael  Broda, Henning  Schauenburg
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Publication Date:
27 November 2007 (online)

Wie hat sich die Borderline-Therapie in Forschung und Versorgung seit dem Erscheinen des PiD-Heftes im Jahre 2000 entwickelt? Das haben wir im Editorial gefragt.

In den Expertenstatements, die wir anstelle des sonst gewohnten „Standpunkte- und State-of-the-Art-Beitrags” zusammengestellt haben, wird zunächst deutlich, dass alle ein zunehmendes Aufeinander-Zugehen der unterschiedlichen Theorieansätze konstatieren: Als Verbindungsstücke gelten beispielsweise DBT oder die (von uns nicht referierte, hauptsächlich in der kognitiven Verhaltenstherapie verbreitete) Schematheorie von Young, aber auch die bis heute in der VT wenig rezipierte Bindungsforschung. Weiterhin besteht offensichtlich Übereinstimmung in der Annahme, dass es sich bei der Störung um ein hochkomplexes Phänomen handelt, das u. U. einer Differenzierung nach beispielsweise Traumaspezifität, massiv-suizidalen oder sogar ADHD-Dimensionen bedarf. Auch eine Weiterentwicklung innerhalb der einzelnen Ansätze, bzw. eine Erschließung neuer Indikationen, ist in den letzten Jahren zu verzeichnen - am stärksten in der DBT. Aber auch in MBT und TFP werden therapeutisch-praktische Interventionen weiterentwickelt. Die Entwicklung der Versorgungsangebote orientiert sich dabei offensichtlich an der erkannten Komplexität und den Untergruppen der Störung: traumatherapeutische Elemente, Elemente für PatientInnen mit Drogen-/Alkoholstörungen oder mit antisozialen Eigenschaften.

Die hohe Übereinstimmung der Experten (wer hätte dies noch vor einigen Jahren gedacht?) wird im Grunde auch in den Darstellungen aus den einzelnen Ansätzen deutlich.

Grande und Schauenburg deuten die Veränderung an, die sich für viele innerhalb der psychoanalytischen Therapie anzubahnen scheint. Diese „Trends” können sicher auch von VertreterInnen anderer Grundorientierung geteilt werden: Die strukturbezogene Psychotherapie fragt weniger nach dem „warum” sondern nach dem „wie” - eine Position, die viele VerhaltenstherapeutInnen teilen können, ebenso die Arbeitsebene „nicht deuten, sondern begleiten”. Das Element der Beelterung (Reparenting) finden wir auch weitverbreitet. Die Darstellung von Beziehungs- und Handlungswissen der strukturbezogenen Therapie umfasst somit sicherlich vieles, was für praktizierende PsychotherapeutInnen nachvollziehbar und durchführbar ist.

Im systemisch orientierten Beitrag gibt uns Kilian einen umfassenden Einblick in die Therapie von Persönlichkeitsstörungen. Sind nicht gerade auch die „Einladungen” der Borderline-PatientInnen eine treffende Beschreibung von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen? Immer auch wieder erfrischend die Einnahme einer positiven Perspektive in einer, gerade bei Borderline-PatientInnen oft vorherrschenden pathologisierenden Beschreibung.

Liest man die Therapeutenaussagen in dem Beitrag von Buchheim und Döring, die sehr plastisch nachvollziehbar die TFP als hauptsächlich einzeltherapeutisches Verfahren darstellen, so fällt es auch hier auf, dass klare Regeln, Absprachen und Vereinbarungen als wichtige Bausteine der Arbeit dargestellt werden.

Höschel und Bohus stellen uns die Weiterentwicklungen der DBT vor: Adoleszente, forensisch Untergebrachte oder substanzabhängige PatientInnen werden in speziell modifizierten Ansätzen behandelt, die besondere Wichtigkeit der Beziehungsgestaltung wird herausgestrichen.

In der MBT, in unserem Heft von Bolm dargestellt, finden sich ebenfalls ganz praktische und umsetzbare Hilfestellungen mit neuen gedanklichen Inputs zur Förderung von Achtsamkeit und reflektiertem Nachdenken.

Zum Abschluss der Überblicksarbeiten nimmt uns Sabine Herpertz mit in die Neurobiologie und zeigt, wie viele Korrelate zu klinischen Phänomenen man inzwischen in der Hirnforschung gefunden hat.

Der danach folgende Teil widmet sich der Versorgung. Dies scheint uns auch eine wichtige Weiterentwicklung der letzten Jahre zu sein: Die Versorgungslandschaft wird differenzierter und stellt viele hilfreiche Beispiele zur ambulanten und stationären Betreuung zur Verfügung. Für dieses Heft haben wir dafür exemplarisch Gunia und Huppertz gewinnen können, die ihre Erfahrungen aus einem ambulanten Versorgungsnetzwerk auch unter der spannenden Frage der gegenseitigen Befruchtung durch unterschiedliche Therapieorientierungen zur Diskussion stellen. Herbold und Sachsse geben ein Beispiel für die inzwischen weit differenzierten Versorgungsmöglichkeiten mit drei Abteilungen in einem psychiatrisch/psychotherapeutisch arbeitenden Versorgungskrankenhaus, die den Desiderata der Experten aus unserem Standpunktebeitrag schon in einem weiten Ausmaß entsprechen. Vieten et al. berichten ebenfalls aus einem Haus der psychiatrischen Regelversorgung und legen den Schwerpunkt der Darstellung auf die Implementierung eines einheitlichen Vorgehens sowie des systematischen Einbezugs von Familien. Am Beispiel einer Abteilung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie schildern Lieb et al. Aspekte der Teamentwicklung - wie aus Krankenschwestern und -pflegern kotherapeutische MitarbeiterInnen nach dem DBT-Konzept werden. Die Betreuung in Wohngruppen vor allem von PatientInnen mit sowohl Essstörungen als auch einer BPS-Diagnose schildern Wunderer et al.

Der Eindruck, der nach der Lektüre dieses Abschnittes zur Versorgung bleibt, weist darauf hin, in welchem Ausmaß und in welcher Qualität inzwischen früher nur an Spezialabteilungen von Universitätskliniken angewandte Konzepte ihren Weg in die allgemeine Versorgung gefunden haben.

In dem von uns ausgewählten Fallbeispiel schildert Junker die Behandlung einer Patientin mit Borderline-Störung und den Diagnosen einer Alkoholabhängigkeit, einer schweren Depression sowie einer atypischen Bulimie im Rahmen einer psychiatrischen Abteilung.

Wie verhalten sich BPS-Patientinnen als Mütter? Dieser Frage geht Barnow in seiner Greifswalder Familienstudie nach. Auf die offensichtlich doch in vielen Dimensionen geringe zeitliche Stabilität im Verlauf der Borderline-Störung weist uns Müller in ihrer Untersuchung hin - ein Bereich, in dem sich die Datenlage stetig bessert.

Es ist für integrative Überlegungen ermutigend, dass die Unterschiede zwischen den Grundorientierungen bei der Behandlung der Menschen mit einer Borderline-Störung offensichtlich geringer werden: Die Ausdifferenzierung scheint eher zwischen unterschiedlichen Subtypen stattzufinden und nicht nach Therapieschulen - ein Ansatz, den wir in der PiD schon lange zu befördern suchen.

Es ist übrigens für uns als Praktiker, die viel mit Borderline-PatientInnen arbeiten, sei es direkt oder in Supervisionen, erstaunlich, dass bei dieser Störungsgruppe das sonst beeindruckende Spaltungspotenzial in der wissenschaftlichen und versorgenden Community eher nicht zum Tragen kommt, alle werden von den PatientInnen, wie in „Notzeiten”, eher näher zusammengebracht. Und doch macht hier der Wettstreit der Grundorientierungen auch wieder Sinn - natürlich finden sich jede Menge gegenseitiger Befruchtungsmöglichkeiten sowohl in den theoretischen als auch den praktischen Beiträgen und wir als PiD-Herausgeber wissen, dass dies ein Grund ist, warum uns unsere Leserschaft die Treue hält.

Die konzeptuelle Entwicklung scheint anzudeuten, dass wir uns von der Behandlung der Borderlinestörung wegbewegen hin zu einer weit differenzierteren Sichtweise nach Untergruppen, Fähigkeitsprofilen und Komorbiditäten. In der praktischen Umsetzung können wir bei allen Unzulänglichkeiten durch z. B. lange Wartezeiten in der stationären und ambulanten Versorgung doch feststellen, dass die Konzepte sich ausbreiten und nach den jeweiligen Bedürfnissen angepasst und weiterentwickelt werden.

So sind wir bezugnehmend auf die im ersten Heft 2000 formulierten Hoffnungen in den letzten sieben Jahren ein erstaunlich großes Stück vorangekommen.

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