PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(4): 406
DOI: 10.1055/s-2007-986263
Im Dialog

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fallgeschichte: Frau I.

Wolfgang  Senf
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Publication Date:
27 November 2007 (online)

Frau I. wurde erfolgreich behandelt. Bevor wir über den Verlauf berichten, bitten wir unsere Leserinnen und Leser um Antworten dazu, worum es sich aus ihrer Sicht handelt und was ihre therapeutischen Empfehlungen sind. Auf dem Hintergrund Ihrer Antworten werden wir dann die Kasuistik um den Behandlungsverlauf und die Katamnese vervollständigen.

Bitte senden Sie Ihre Antworten an: wolfgang.senf@uni-due.de.

Frau I. kommt auf Empfehlung ihrer Hausärztin. Es ist eine im Kontakt zugewandte 30-jährige Frau von eher kleiner Statur, die im Gespräch rasch ins Weinen kommt und deutlich belastet wirkt. Sie sei Grundschullehrerin - „sozialer Brennpunkt, 80 % Migranten”. Sie berichtet dann von einer Bedrohung durch einen libanesischen Schüler. „Bis zur vierten Stunde habe ich es noch geschafft”, dann sei sie zur Rektorin gegangen, um sich nach Hause abzumelden. Seitdem sei sie krankgeschrieben. Die Eltern müssten sich um sie kümmern, hier beginnt die P. zu weinen. Sie sei ständig am Weinen, schlafe schlecht, wache nachts dreimal auf, schweißgebadet, sie habe Kreislaufbeschwerden, es werde ihr schwindelig, „ich komme nicht mehr zurecht”. In sechs Wochen habe sie von 57 auf 52 kg abgenommen, sei jetzt schon bei 48 kg. Solche Zustände kenne sie nicht.

Nachdem sie sich etwas beruhigen kann, schildert sie ausführlich folgendes Ereignis: Sie habe viele ausländische Schüler, unterrichte Mathematik in einem Förderkurs für Migranten. Seit vier Wochen sei auch dieser libanesische Schüler dabei. Es komme oft vor in dem Kurs, dass Schüler ihre Schulmaterialien nicht mitbringen, sich damit dem Unterricht verweigern wollten. Das sei auch bei diesem libanesischen Jungen gewesen. Er habe sich in dieser besagten Stunde provokativ mit anderen Dingen beschäftigt. Sie habe seine Materialien kontrollieren wollen, er habe Streit mit ihr begonnen, angefangen mit ihr zu diskutieren. Sie habe das unterbrochen, und als sie zum Pult gegangen sei, habe er ihr auf Arabisch etwas hinterhergerufen. Das sei in der Schule nicht gestattet und werde sofort unterbunden. Sie habe ihm das deswegen in lautem Ton untersagt, so wie sie es gewöhnlich mache und woran sich die Schüler dann auch hielten, so sei ihre bisherige Erfahrung. Dieser Schüler sei jedoch wider Erwarten aufgestanden, auf sie zugegangen und habe ihr gesagt: „Passen Sie auf, was Sie sagen, Frau I., sonst passiert Ihnen was.” Sie habe versucht, ihn verbal zurückzuweisen, er sei jedoch hinter ihr hergegangen, und er habe den Satz wiederholt: „Passen Sie auf, was Sie sagen, Frau I., sonst passiert Ihnen was.” Sie habe versucht, standzuhalten, sei dann aber zurück zum Pult gegangen. In solchen Konfliktsituationen, die sie eigentlich kenne, sei sie zwar immer sehr angespannt und angestrengt, „mit Schweiß unter den Achseln”. Diesmal sei sie aber „regelrecht zusammengesackt”, es sei ihr schwindelig geworden, „ich habe Angst gehabt, vor der Klasse umzukippen, vielleicht sogar ohnmächtig zu werden”.

Sie spricht dann emotional sehr bewegt über Äußerungen von anderen Schülern, drei ihrer Schüler seien schon einmal im Knast gewesen, es fielen häufig Worte wie „fick dich du Schlampe” oder sie würde überhaupt „Schlampe” genannt. Das sei alles eine große Zumutung, so habe sie jedoch noch nie reagiert. Auf Nachfrage: Sie habe schon einmal an Gewicht abgenommen, nicht so viel, bei einem „privaten Vorfall”, es habe sich um eine Trennung gehandelt.

Biografische Notizen: Sie habe zwei jüngere Schwestern (- 2 J. und - 5 J.), komme mit beiden gut aus, es sei ein enges Verhältnis. Der Vater („Papi”) sei Berufsschullehrer. Er sei zwar streng gewesen, ohne Leistung habe es keine Zuwendung gegeben, „wenn du eine 2 in Latein bekommst, bekommst du ein Fahrrad”. Sie komme aber gut mit ihm aus, habe viel von ihm als Lehrer gelernt. Die Mutter sei Hausfrau, helfe dem Vater jetzt bei seinem Hobby, Häuser zu sanieren und zu makeln. Kindheit und Jugend erscheinen unauffällig ohne einschneidende Erlebnisse. Sie sei mit 19 Jahren von zu Hause ausgezogen. Sie sei nach wenigen langjährigen Beziehungen jetzt seit 1œ Jahren wieder in einer „intakten Beziehung,” sie seien vor vier Monaten zusammengezogen, man verstehe sich sehr gut. Er sei Politologe und Soziologe, jetzt gerade mit dem Studium fertig.

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