Pädiatrie up2date 2007; 2(2): 149-172
DOI: 10.1055/s-2007-966531
Neuropädiatrie/Psychiatrie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Epilepsie

Jan-Peter  Ernst
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Publication Date:
31 May 2007 (online)

Einleitung

Epilepsien gehören mit 0,5 - 1 % zu den häufigsten chronischen neurologischen Erkrankungen. Viele andere Erkrankungen wie das Asthma bronchiale, die rheumatoide Arthritis, Leukämien und Diabetes mellitus spielen im Kindesalter ebenfalls eine wichtige Rolle. Der wesentliche Unterschied ist jedoch ihre große Homogenität, was ätiologische und pathogenetische Aspekte betrifft. Die sich aus dieser Tatsache im klinischen und wissenschaftlichen Alltag ergebenden Konsequenzen liegen auf der Hand: Sowohl die Behandlungsrichtlinien als auch die Planung pharmakologischer Studien sind um vieles leichter zu formulieren als bei Epilepsien.

Durch die außerordentliche Heterogenität und die damit zusammenhängende Schwierigkeit, Epilepsien eindeutig klassifizieren zu können, erklärt sich die häufige Diagnose „zerebrales Anfallsleiden”. Man findet sie insbesondere auf Epikrisen aus Kliniken, die über keine auf Epilepsien spezialisierten Abteilungen verfügen. In der Tat ist es aber hin und wieder selbst für einen Spezialisten lediglich möglich zu sagen, dass es sich um eine Epilepsie handelt. Weitere Klärungen sind oft nur durch Beobachtung des Verlaufs, aufwändige neurophysiologische Untersuchungen sowie radiologische und/oder nuklearmedizinische Untersuchungen möglich.

Vor allen weiteren Überlegungen ist es notwendig, über das wichtigste Krankheitssymptom der Epilepsien, nämlich den epileptischen Anfall, zu sprechen.

Das Vorkommen von Gelegenheitsanfällen, auch als „akute epileptische Reaktionen” bezeichnet, wird mit etwa 5 % angegeben. Jeder Mensch kann unter entsprechenden Bedingungen einen epileptischen Anfall erleiden (Elektrokonvulsionstherapie, Hypoglykämie, neurotoxische Substanzen). Die Bereitschaft hierzu ist individuell unterschiedlich ausgeprägt und mit großer Wahrscheinlichkeit genetisch determiniert.

Akute epileptische Reaktionen sind definiert als Anfälle, die aufgrund einer akuten Erkrankung oder Schädigung des Gehirns, einer Stoffwechselentgleisung, eines toxischen Einflusses oder bei hohem Fieber auftreten und nach Überstehen der akuten Störung spontan sistieren. Kommt es nach einer solchen Episode weiter zu Anfällen, die dann mit einer akuten Störung nicht mehr erklärt werden können, muss man davon ausgehen, dass durch das Ereignis eine definitive, bleibende Läsion des Gehirns eingetreten ist, die jetzt für die scheinbar unprovozierten Anfälle verantwortlich ist. Dies leitet über zu der Definition von Epilepsien:

Merke: Epilepsien sind eine Gruppe sehr heterogener Erkrankungen. Ihnen ist gemeinsam, dass es im Verlauf immer wieder zu epileptischen Anfällen kommt, ohne dass diese durch irgendeine erkennbare äußere Ursache provoziert werden.

So richtig diese Aussage allgemein ist - es soll darauf hingewiesen werden, dass es auch im Rahmen verschiedener, vor allem generalisierter Epilepsien (Aufwach-Grand-Mal, juvenile myoklonische Epilepsie) zu Anfallsprovokationen durch äußere Faktoren kommen kann.

Bemühungen um eine Klassifikation einerseits der epileptische Anfälle und andererseits der Epilepsien wurden von entsprechenden Kommissionen der Internationalen Liga gegen Epilepsie angestellt. Derzeit wird über eine Revision beider Klassifikationen diskutiert [6] [7]. Wichtigstes Prinzip in den bestehenden Schemata sind die Dichotomien „fokal” und „generalisiert” und bei den Epilepsien zusätzlich noch „symptomatisch” und „idiopathisch/kryptogen”. Durch die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Bildgebung hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Anteil der kryptogenen Epilepsien kontinuierlich abgenommen. Unter der Annahme einer weiteren rasanten Fortentwicklung der Technik ist auch weiterhin damit zu rechnen.

Die Revision der Epilepsieklassifikation ist mehr als überfällig. Die Bezeichnung „Epilepsien des Temporallappens” erscheint im Lichte der heutigen diagnostischen Möglichkeiten so, als würden die Internisten eine Cholezystitis als „schmerzhafte Erkrankung des rechten Oberbauchs” bezeichnen.

Der in obiger Epilepsiedefinition deutlich werdende „kleinste gemeinsame Nenner” bedingt, dass das Spektrum der phänotypischen Ausprägung unterschiedlicher Epilepsien außerordentlich breit ist. Sowohl ein altersentsprechend entwickeltes Schulkind mit einer idiopathisch generalisierten Absence-Epilepsie hat Anfälle als auch ein Kind mit einem schweren Residualsyndrom nach peripartualer Asphyxie mit einer hochgradigen Tetraparese, schwerer geistiger Behinderung, hochgradigen Einschränkungen der Sinnesfunktionen und einer symptomatischen fokalen Epilepsie. Die beiden Kinder sind aber ansonsten so unterschiedlich, wie es deutlicher nicht vorstellbar ist.

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Dr. med. Jan-Peter Ernst

Chefarzt Kinderklinik
Epilepsiezentrum Kork

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