intensiv 2007; 15(2): 89-95
DOI: 10.1055/s-2007-963072
Pflegewissenschaft

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Natur, Technik und Pflege - Fragmente für einen ausstehenden Dialog (Teil II)[1]

Heiner Friesacher1
  • 1Langwedel-Etelsen
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Publication Date:
26 April 2007 (online)

Einleitung

Wie wir im ersten Teil dieses Beitrags zeigen konnten, zeichnet sich die Pflege durch ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur Natur und Technik aus [1]. Ist sie auf der einen Seite eng mit dem naturwissenschaftlichen Welt- und Menschenbild verbunden und übernimmt zum Teil unkritisch deren Positionen, findet sich auf der anderen Seite eine vehemente Kritik und Ablehnung einer an der Naturwissenschaft und Technik ausgerichteten Pflege. Beide Positionen greifen aber zu kurz. Ohne naturwissenschaftliches Wissen und dessen praktische Umsetzung in Form von Technik ist moderne Pflege im Allgemeinen und die Intensivpflege im Besonderen nicht denkbar. Dabei realisiert sich die Intensivpflege aber in einem unauflöslichen Zwiespalt zwischen „High-touch” und „High-tech”. Durch die Konfrontation und Auseinandersetzung mit der Theorie der Intensivmedizin und ihrer zentralen Denkfigur der Ersetzbarkeit und Nachahmung der Vitalfunktionen droht der Intensivpflege die Vereinnahmung durch den biomedizinischen Blick mit den bekannten Folgen einer Abwertung und Ausblendung biografischer, lebensweltlicher und existentieller Dimensionen des Menschseins. Dieses wird zum Beispiel beim Konzept des Weaning, dem Entwöhnen von der maschinellen Beatmung, mehr als deutlich. Sich lediglich auf die physiologischen, technischen und maschinellen Aspekte beim Entwöhnen zu konzentrieren, wird der Komplexität des Phänomens „Atmen” nicht gerecht. Auch in neueren Abhandlungen [2] zum Thema wird das Weaning äußerst einseitig aus einer rein biomedizinischen Perspektive betrachtet. Dabei zeigt eine schon vor einigen Jahren publizierte, an evidenzbasierten Kriterien orientierte, zweiteilige Übersichtsarbeit zum Weaning [3] [4], dass bisher kein Prädiktor für eine erfolgreiche Entwöhnung von der maschinellen Beatmung ermittelt werden konnte, was unter anderem am Untersuchungsdesign der Studien liegt. So werden in den meisten Weaning-Studien nur Patienten mit guten Erfolgsaussichten eingeschlossen [3]. Ebenfalls nicht klar beantworten lässt sich die Frage nach der richtigen Entwöhnungsstrategie, auch hier lässt sich nach Sichtung und Analyse systematischer Übersichtsarbeiten kein eindeutiger Schluss ziehen, welchem Verfahren der Vorzug zu geben ist. Die Anwendung eines Weaning-Protokolls scheint auf jeden Fall ein geeignetes Vorgehen zu sein [2] [4].

Eine andere Sicht auf das Weaning und das Phänomen Atmen wird mit den Standard-Studiendesigns nur selten erfasst. Der Beziehungsaspekt fehlt ebenso wie subjektive Parameter zur Einschätzung der Bereitschaft der Betroffenen [5] [6]. Dabei bieten andere Zugangswege und Verfahrensweisen eine sinnvolle Ergänzung zu den gängigen Vorgehensweisen [7]. Das setzt aber ein anderes Verständnis voraus, welches auch die Perspektive auf Natur und Technik einschließt. Das soll im Folgenden geleistet werden.

1 Der vorliegende Beitrag basiert in wesentlichen Abschnitten, wie schon der erste Teil, auf meiner Dissertation mit dem Titel: „Theorie und Praxis pflegerischen Handelns. Begründung und Entwurf einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft”. Universität Osnabrück, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften.

Literatur

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1 Der vorliegende Beitrag basiert in wesentlichen Abschnitten, wie schon der erste Teil, auf meiner Dissertation mit dem Titel: „Theorie und Praxis pflegerischen Handelns. Begründung und Entwurf einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft”. Universität Osnabrück, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften.

Dr. phil. Heiner Friesacher

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