Klin Monbl Augenheilkd 2007; 224(3): 216-217
DOI: 10.1055/s-2007-962944
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Zur Geschichte des Mikrostrabismus[1]

The History of MicrostrabismusJ. Lang
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Publication Date:
17 October 2007 (online)

Im Laufe meiner Praxistätigkeit habe ich immer wieder versucht, spezielle strabologische Krankheitsbilder herauszustellen. Eine besondere strabologische Einheit war der Mikrostrabismus.

Ich denke, dass die Erwähnung einer kleinen Arbeit über den Strabismus incongruus von Johannes Peter Müller (1801 - 1858) aus dem Jahre 1826 und einer Arbeit von Dr. Armin von Tschermak-Seyssenegg (1870 - 1952) aus dem Jahre 1899 am Platz wäre.

Unter den frühen Arbeiten über den Strabismus concomitans sind besonders jene von Johannes Peter Müller wichtig. Johannes Peter Müller ([Abb. 1]) war Physiologe und Anatom, zuerst 1826 in Bonn, dann 1833 in Berlin. Er befasste sich mit der vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes und den verschiedenen Arten des Schielens.

Abb. 1 Johannes Peter Müller (1801 - 1858).

Den Strabismus concomitans klassierte er folgendermaßen:

der Strabismus ciliaris bei verschiedenen Refraktionszuständen, der Strabismus amblyopicus, der Strabismus oculomotorius, der Strabismus assuetus (durch Angewöhnung), der Strabismus myopum, der Strabismus lusciosus mit Unbeweglichkeit eines Auges, der Strabismus duplex (Doppeltschielen ohne Fixation) und der Strabismus incongruus.

Zum Strabismus incongruus schrieb Johannes Peter Müller:

„Dieser Strabismus ist angeboren und unheilbar. Er beruht auf einem Unterschied in den identischen Stellen der Augen. Der Mittelpunkt in einem Auge entspricht nicht einer identischen Stelle im anderen Auge. Es besteht eine Inkongruenz der Netzhaut. Diese Art des Schielens ist nicht selten, in der Regel aber so gering, dass sie wenig auffällt. Die Diagnose ist sehr leicht. Das einzige, aber sichere Merkmal ist, dass ein naher Gegenstand doppelt erscheint, wenn ein Gegenstand in der Ferne fixiert wird.”

Ein wichtiger Hinweis auf den Mikrostrabismus findet sich bei Prof. Dr. Armin von Tschermak, Edler von Seysenegg, geb. 1870 in Wien, gest. 1952 ([Abb. 2]). Seine Schüler waren Hans Goldmann, Hermann Burian, Arthur Linksz, Werner Herzau und Heinrich Harms. Zu seiner eigenen Augenaffektion schrieb er Folgendes:

Abb. 2 Armin von Tschermak-Seysenegg (1870 - 1952).

„Meine Augen waren noch über das erste Lebensdezennium hinaus nicht oder kaum myopisch (Erfahrungen beim Scheibenschießen). Später hatte ich eine anisometrope Myopie von rechts - 5,52 D und links - 1,75 D. Ich benützte mein rechtes Auge für die Nähe und das linke für die Ferne. Nach der Betrachtung mit dem rechten und linken Auge traten zwei nebeneinander erscheinende Nachbilder auf.”

Das Gleiche galt auch für die Haidingerschen Büschel, die er ohne polarisierte Filter erkennen konnte. Bei einem Tafelabstand von 18 cm und Rechtsfixation lag das foveale Nachbild des linken Auges im Mittel 5 mm (= 1°35′) nach rechts und 9 mm (2°52′) nach oben versetzt. Er schrieb:

„Es ergibt sich der Schluss, dass die Korrespondenz meiner Netzhäute gestört ist - und durch eine anomale Sehrichtungsgemeinschaft ersetzt erscheint.”

Im Jahre 1947 erschien die zweite Auflage seines Buches „Einführung in die physiologische Optik” im Springer Verlag in Wien. Die Sehrichtungsangleichung oder sensorische Fusion wurde als Allelotropie (S. 119 - 121) bezeichnet. Nützlich erscheint der Kongruenzapparat (S. 133). Die Darstellungen von Tschermak waren sehr ausführlich und kompliziert und schwer verständlich. Gunter K. von Noorden berichtet, dass seine Kommilitonen in Tübingen die englische Übersetzung von Dr. Paul Boeder vorzogen, weil der originale deutsche Text so schwierig zu lesen war. Leider konnte ich selbst keine englische Übersetzung auftreiben.

Nach verschiedenen Arbeiten über das Schielen berichtete ich „Über Amblyopie ohne Schielen und unauffälligem Schielwinkel” (Ophthalmologica 1961; 141: 429 - 434). Es wurden 18 Patienten mit kleinstem Schielwinkel beschrieben, deren Visus auf dem amblyopen Auge zwischen 0,8 und 2/60 lag. Beim 1. Internationalen Strabismus-Symposium in Gießen im Jahre 1966 erwähnte ich 103 Patienten mit „Small Angle Strabismus or Microtropia”. Unter insgesamt 653 Fällen von Strabismus convergens fanden sich 126 primäre Fälle und 122 sekundäre Mikrostrabismen. Recht eindrücklich blieb mir eine Mitteilung in Gießen in Erinnerung: „Der Mikrostrabismus scheint eine geographische Anhäufung in Zürich zu sein.”

In den USA wurde der Mikrostrabismus als fixation disparity oder monofixational phoria bezeichnet; in Europa scheint der Ausdruck Mikrostrabismus oder Mikrotropie geläufig zu sein. Der Ausdruck „Allelotropie” wird nirgends gebraucht. In der sechsten Auflage von Binocular Vision schreiben G. von Noorden und E. Campos auf S. 132, der von Parks eingeführte Ausdruck monofixation wäre etwas zweideutig, und auf S. 343: „We have adopted Lang’s microstrabismus or microtropia as an appropriate term to describe these deviations.”

Der Begriff Mikrostrabismus scheint sich somit weitgehend eingebürgert zu haben.

1 1Herrn Professor Herbert Kaufmann zum 65. Geburtstag gewidmet.

1 1Herrn Professor Herbert Kaufmann zum 65. Geburtstag gewidmet.

Prof. Dr. med. Joseph Lang

Höhenstraße 24

8127 Forch, Schweiz

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