Fortschr Neurol Psychiatr 1982; 50(9): 279-296
DOI: 10.1055/s-2007-1002271
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Ausfallssyndrom nach Unterbrechung der Alkoholabhängigkeit

The Deficiency Syndrome after Alcohol WithdrawalH.  Scholz
  • Krankenhaus der Stiftung Maria Ebene
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Publication Date:
11 January 2008 (online)

Abstract

As in the manifest alcohol dependence complex organic and functional psychical changes are still present after alcohol withdrawal. These can lead in individually variing extent to mental, somatic and vegetative deficiencies. In compiling clinical and pathogenic facts one gets an impression that the deficiencies in respects of symptoms and course follow certain patterns the knowledge of which is considerably important for the therapy.

The present clinical descriptions differ between an acute syndrome in the actual withdrawal phase and protracted occuring deficiencies, which may still occur months or years after the beginning of abstinence. The acute withdrawal syndrome (symptomatology of falling alcohol concentration) is characterised by tremor, psychical irritability and episodes of dysphoric mood, hyperhidrosis, gastrointestinal complaints as well as other less common psychical, vegetative and somatic deficiencies. The tendency of a combination with withdrawal seizures, hallucinations or withdrawal delirium exists only in a small percentage of cases. The course of the acute syndrome is characterised by a step-by-step increase of deficiencies during the first few days, followed by a rapid remission within the first or second week after the beginning of abstinence.

The quantity of symptoms differs individually. All variations exist from a severe affection to mild or clinically nonapparent symptoms. The majority of the biochemical deviations concern disorders of electrolytes, changes of biogenic amine metabolism and dysfunctions of different transmitters. From the neurophysiological viewpoint different models for explanation of the existing overirritability of CNS-systems were developed.

The clinical observation of the deficiencies with a protracted course in the further abstinence phase is rather difficult, because of their predominantly undulating course. Symptoms presented are psychical irritability, episodes of depressive anxious mood occasionally followed by euphoria and irritability, as well as sleep disorders craving for alcohol and different vegetative and somatic deficiencies.

Even with continued abstinence the protracted deficiency symptomatology can still appear intermittently months or years after the beginning of abstinence. In a characteristical course the crises are interrupted by long symptom-free intervals. The mayority of researchers agree that the protracted deficiency syndrome is an important factor for the occurrence of unexplained relapses.

Only a few previous studies show, that different external pressures or illnesses during convalescence provocate the deficiencies. Beside constitutional factors and the organic lesion of the CNS also different functional disorders are important in the pathogenesis of deficiencies. Among these, special notice is to be taken of cognitive deficiencies, which cause a reduced ability to overcome crises. Factors also present individually to a differing extent are change of motivation, recurrent craving for alcohol, actualisation of neurotic mechanisms and affective disorders.

The therapeutic concept must take into account the course of the protracted deficiency syndrome, the factors concerned in its origination and the individual situation of the patient in question. From the rules described above the superiority of therapeutical concepts can be explained which faciliate a sufficient long term aftercare for the management of intermittent crises.

Zusammenfassung

Analog zu den Verhältnissen während der manifesten Alkoholabhängigkeit sind auch nach ihrer Unterbrechung noch komplexe organische und funktionell-psychologische Veränderungen wirksam, die in individuell verschiedenem Ausmaß zu psychischen, somatischen und vegetativen Ausfällen führen können. Bei einer Zusammenstellung klinischer und pathogenetischer Fakten entsteht der Eindruck, daß die Ausfälle bezüglich Symptomatik und Verlaufseigenheiten gewissen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind, deren Kenntnis erhebliche Bedeutung für die Therapieführung zukommt.

Die vorliegenden klinischen Beschreibungen unterscheiden zwischen einem akuten Syndrom in der direkten Entzugsphase und protrahiert verlaufenden Ausfällen, die noch Monate bis Jahre nach Abstinenzbeginn vorhanden sein können. Das akute Syndrom der ausklingenden Alkoholisierung ist durch Tremor, psychische Irritabilität und dysphorische Verstimmung, Hyperhidrosis, gastrointestinale Beschwerden sowie verschiedene andere weniger häufige psychische, vegetative und somatische Ausfälle gekennzeichnet. Die Tendenz zur Kombination mit entzugsbedingten Anfällen, Halluzinationen bzw. Entzugsdelir besteht nur bei einem kleinen Anteil der Verläufe. Der Verlauf des akuten Syndroms ist durch eine stufenweise Zunahme der Ausfälle während der ersten Tage charakterisiert, gefolgt von einer raschen Rückbildung noch innerhalb der ersten bzw. zweiten Woche nach Einsetzen der Abstinenz. Die quantitative Ausprägung der Symptomatik ist individuell sehr verschieden, es existieren alle Übergänge zwischen einer schweren Beeinträchtigung und leichten bzw. praktisch klinisch nicht in Erscheinung tretenden Symptomen.

Die Schwerpunkte der biochemisch faßbaren Abweichung betreffen Störungen des Elektrolythaushaltes, Veränderungen des Stoffwechsels der biogenen Amine und Funktionsbeeinträchtigungen verschiedener Transmittersysteme. Aus neurophysiologischer Sicht wurden verschiedene Modellvorstellungen zur Erklärung der bestehenden Übererregbarkeit zentralnervöser Funktionssysteme entwickelt.

Die protrahiert verlaufenden Ausfälle in der weiteren Abstinenzzeit sind einer klinischen Beobachtung wegen ihres vorwiegend wellenförmigen Verlaufscharakters weniger gut zugänglich. Als Symptome werden psychische Irritabilität, Episoden von depressiv-ängstlicher Verstimmung, gelegentlich abgelöst von Euphorie und Getriebenheit sowie Schlafstörungen, Alkoholverlangen und verschiedene vegetative und somatische Ausfälle angegeben.

Die protrahierte Ausfallssymptomatik kann bei anhaltender Abstinenz noch Monate bis Jahre nach Abstinenzbeginn intermittierend auftreten, bei charakteristischem Verlauf werden die Krisen von langen symptomfreien Intervallen unterbrochen. Die Mehrzahl der Untersucher stimmt darin überein, daß dem protrahierten Ausfallssyndrom nach Unterbrechung der Alkoholabhängigkeit während seiner klinisch manifesten Existenz erhebliche Bedeutung für ein scheinbar unmotiviertes Rückfallsgeschehen zukommt. Aus einzelnen Untersuchungen geht hervor, daß verschiedene äußere Belastungen oder Erkrankungen während der Restitution zu einer Provokation der Ausfälle führen können. Neben konstitutionellen Momenten und der organischen Schädigung des Zentralnervensystems kommt auch verschiedenen funktionellen Störungen eine erhebliche Bedeutung für das Entstehen der Ausfälle zu. Darunter sind besonders kognitive Ausfälle hervorzuheben, die eine verminderte Fähigkeit zur Bewältigung von Krisen bedingen. Andere, ebenfalls in individuell verschiedenem Ausmaß vorhandene Faktoren sind u.a. Motivationsänderungen, Wiederauftreten von Alkoholverlangen, Aktualisierung neurotischer Mechanismen und affektiver Störungen. Das Behandlungskonzept muß die Verlaufseigenheiten des protrahierten Ausfallssyndroms, die an seinem Entstehen beteiligten Faktoren und die individuelle Situation des betroffenen Patienten berücksichtigen. Aus den beschriebenen Gesetzmäßigkeiten erklärt sich die Überlegenheit von Therapieprinzipien, die auf der Basis einer Langzeitbehandlung eine ausreichende therapeutische Beeinflussung der intermittierend auftretenden Krisensituationen ermöglichen.

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