Ernährung & Medizin 2006; 21(1): 3-4
DOI: 10.1055/s-2006-931590
Gasteditorial
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Auf der Suche nach der optimalen Nährstoffrelation im Kampf gegen die Pfunde

Hans-Joachim F. Zunft1
  • 1Potsdam-Rehbrücke
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Publication Date:
07 April 2006 (online)

Ernährungswissenschaft und -medizin müssen Antworten finden und vermitteln

Deutschland lebt im Überfluss. Zwar tun sich massive ökonomische und soziale Probleme auf. Unverändert hohe Arbeitslosigkeit, drohender Kollaps des Gesundheitssystems, beängstigende Aussichten für eine desaströse Altersversorgung verunsichern die Bevölkerung. Auch vermag sich Mangel selbst im Überfluss zu etablieren, weshalb sich die diesjährige Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung diesem Thema zuwendet. Aber der Blick in die wohlgefüllten Regale der Handelsketten und mehr noch auf die überquellenden Einkaufskörbe der (dennoch unzufrieden dreinschauenden) Verbraucher kündet von einer überreichlichen Versorgung mit Nahrungsgütern in unserem Lande.

Welche gesundheitlichen Auswirkungen dies hat, lesen wir an der statistisch wohl dokumentierten Zunahme an nicht übertragbaren chronischen Erkrankungen ab. Nicht nur die nüchternen Zahlen vermitteln uns die drastisch gestiegene Prävalenz von Übergewicht und Adipositas. Auch der Augenschein überzeugt von der Existenz des Problems; denn unser Umfeld füllt sich mit drallen und feisten Menschen. Wir müssen befürchten, dass die Körpermaße der Betroffenen jene Größe erreichen, wie wir sie bereits im US-amerikanischen Straßenbild erschreckt wahrgenommen haben.

Natürlich ist diese Entwicklung nicht allein als Folge verbreiteter Überfütterung anzusehen. Eine immens gestiegene Bewegungsarmut stört das Gleichgewicht zwischen Energieaufnahme und -abgabe auf der Verbrauchsseite. Zur Bekämpfung der massiv verbreiteten Folgesymptome gehören demnach Strategien, die sich auch einer Anhebung körperlicher Aktivität verschreiben. Dennoch bleibt es Aufgabe von Ernährungswissenschaft und -medizin, der Bevölkerung Ratschläge bereitzustellen, wie sich die Energiebilanz auf seiten der Zufuhr günstig beeinflussen lässt. Dabei decken sich präventive Vorgehensweisen nur partiell mit therapeutischen Konzepten. Zu beidem hat die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten eine Fülle von Daten geliefert. Allerdings mangelt es an zuverlässigen Antworten, die sich mit dauerhaftem Erfolg in einfache, praktizierbare Regeln für die Bevölkerung übertragen lassen.

Zu den noch immer offenen Fragen der Ernährungswissenschaft gehört, welche Zusammensetzung der so genannten Makronährstoffe Protein, Fett und Kohlenhydrate und welches Verhältnis zueinander sich optimal für eine dauerhafte, den Konsumenten bzw. Patienten wenig frustrierende Begrenzung der Energiezufuhr eignet. Zahlreiche Variablen spielen dabei eine Rolle. So differieren die Makronährstoffe

in ihrem Energiegehalt und ihrer energetischen Effizienz, in ihrem Einfluss auf die Hunger- und Sättigungsregulation, in den im Stoffwechsel ausgelösten katabolen und anabolen Prozessen, in ihrem Zusammenwirken mit genetischen Faktoren, in den ausgelösten psychischen Effekten.

Derartige Unterschiede bestehen auch, wenngleich in geringerem Ausmaß, innerhalb jeder der drei Makronährstoffgruppen. So erweisen sich Triglyceride mit mittellangen Fettsäuren (mit 6 bis 12 C-Atomen) als weniger energieeffizient als solche mit langkettigen Fettsäuren (mit 16 und 18 C-Atomen). Auch unterschiedliche Wege der metabolischen Verwertung sind bedeutsam: Fructose mündet nicht wie Glucose in den glykolytischen Hexoseabbauweg ein. Sie umgeht dadurch den entscheidenden Regulationsschritt der durch Phosphofructokinase katalysierten Phosphorylierung des Fructose-6-phosphats. Die Insulinsekretion bleibt aus, das vermehrt bereitgestellte Acetyl-Coenzym A wirft die Liponeogenese an.die beobachteten biochemischen und physiologischen Phänomene aber in der Genese und Therapie von Übergewicht und Adipositas eine Rolle spielen, lässt sich nur durch experimentelle Studien an Probanden bzw. Patienten klären. Diese fehlen zu vielen der brennenden Fragen, vor allem wegen des dazu nötigen, immensen personellen, finanziellen und zeitlichen Aufwands. So sind Ernährungswissenschaft und -medizin gezwungen, Verzehrs- und Diätempfehlungen auf schwankender Grundlage zu erteilen. Analogieschlüsse, Plausibilitätserwägungen und Experteninterpretation müssen herhalten, um die fehlenden gesicherten Kenntnisse zu überdecken. Spätere Korrekturen, ja sogar Kursänderungen mit anders lautenden Aussagen, sind damit vorprogrammiert.

Nun ist dies ein Problem, mit dem es die Wissenschaft als Methode des Erkenntnisgewinns immer zu tun hatte und zu tun haben wird. „Wissenschaft ist nicht der Besitz von Wissen, sondern das Suchen nach Wahrheit. Es ist die Geschichte der Naturwissenschaft, die uns lehrt, wie oft der Mensch sich geirrt hat. Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen”, sagte Karl Popper (1902-1994). Stets kann sich auch scheinbar gesichertes Wissen unter neuen Voraussetzungen, mit neuen Methoden, unter neuartiger Betrachtungsweise als unzulänglich, ergänzungsbedürftig oder gar falsch erweisen. Davor vermag selbst der Schritt zu evidenzbasiertem Vorgehen in Medizin und Ernährungsforschung, so berechtigt und notwendig er auch ist, nicht zu bewahren.

Im Wissen um diese prinzipiellen Unzulänglichkeiten will das vorliegende Heft von „Ernährung & Medizin” über gegenwärtige Diätvorschläge bei Übergewicht und Adipositas informieren. Dass man durch reduzierten Fettkonsum die Energieaufnahme herabsetzen und damit auch die Gewichtsentwicklung kontrollieren kann, ist seit langem bekannt. Unstrittig ist aber auch, dass den Betroffenen die langfristige Befolgung dieser Maßnahme schwer fällt. Als Ausweg bietet sich in Zeitschriften, Büchern und im Internet eine Fülle unterschiedlichster Kostformen an, für deren Effizienz außer der wortgewaltigen Überzeugungskraft ihrer Schöpfer oft nur Weniges spricht. Eine umfassende Bewertung all dieser so genannten Diäten kann hier nicht erfolgen. Vielmehr wollen die Beiträge des Heftes darüber informieren, von welchen Variationen in der Protein-, Fett- und Kohlenhydratzusammensetzung der Nahrung man überhaupt einen Einfluss auf das Körpergewicht erwarten kann. Die Autoren sind sich dabei der Vorläufigkeit ihrer Urteile bewusst. Um die vorgestellten Ergebnisse und Zusammenhänge in der Ernährungsberatung anzuwenden, bedarf es deshalb zusätzlich des eigenen kritischen Urteils der Leserschaft; denn „die Wissenschaft bedeutet nicht beschauliches Ausruhen im Besitz gewonnener Erkenntnis, sondern sie bedeutet rastlose Arbeit und stets vorwärts schreitende Entwicklung” (Max Planck, 1858-1947).

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