Sprache · Stimme · Gehör 2006; 30(1): 36-37
DOI: 10.1055/s-2006-931531
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„APD” neu definiert - ein Vorbild für „AVWS”?

APD Newly Defined - Consequences for Europe?R. Schönweiler1
  • 1Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus, Lübeck
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Publication Date:
17 March 2006 (online)

Fragt man einen praktisch tätigen Leser der Zeitschrift Sprache Stimme Gehör nach charakteristischen Symptomen auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS), so werden die meisten wohl spontan die unsichere Sprachlautunterscheidungsfähigkeit, das eingeschränkte auditive Kurzzeit- (und/oder Arbeits-) Gedächtnis, die geringe auditive Aufmerksamkeit und den gestörten (Schrift-) Spracherwerb nennen. So jedenfalls werden es die Leser gelernt haben, so steht es in allen Lehrbüchern, so äußern sich aktuelle Publikationen und so erscheint es für jeden von uns logisch zu sein. Diese Anschauung wird durch einen aktuellen in den Jahren 2004 und 2005 entwickelten Konsensus aus Nordamerika ins Wanken gebracht.

Der Konsensus wurde durch keine geringere als die American Speech-Language-Hearing-Association (ASHA) publiziert [1] [2] [3]. Vergessen wir nicht: Die ASHA gilt als weltweit führend in der Diskussion um Auditory Processing Disorder (APD), sind doch namhafte Vorreiter der Diagnose in dieser Fachgesellschaft organisiert. Da diese Fachgesellschaft interdisziplinär organisiert ist, darf man auch einen interdisziplinären Konsensus annehmen. Bisher konnte der Begriff APD als englischsprachiges Synonym für den deutschsprachigen Begriff AVWS angesehen werden. Damit soll es nun vorbei sein [4]. Wie ist das zu verstehen?

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der ASHA hat sich darauf geeinigt, APD als primäre Krankheit des Hörsystems zu definieren [1] [2]. Zur Diagnose einer APD sind folgerichtig nur Symptome maßgebend, denen unmittelbar Aspekte der auditiven Dekodierung zuzuordnen sind. Symptome, die von anderen Leistungen als auditiven beeinflusst werden, z. B. Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Spracherwerb, wurden - zumindest als Leitsymptome - ausgeklammert [1] [3].

Dies bedeutet, dass die neue Definition der APD nur noch Einschränkungen in einer oder mehrerer der folgenden Leistungen einschließt [1]:

Schalllokalisation und -lateralisation (sound localization and lateralization) Auditive Unterscheidungsfähigkeit (auditory discrimination) Auditive Mustererkennung (auditory pattern recognition) Zeitliche Aspekte des Hörens (temporal aspects of audition)- Zeitliche Integration (temporal integration)- Unterscheidungsfähigkeit für zeitliche Merkmale (temporal discrimination, z. B. temporal gap detection)- Erkennung einer zeitlichen Reihenfolge (temporal ordering)- Zeitliche Maskierung von Signalen (temporal masking) Fähigkeiten des Hörens und Verstehens konkurrierender (Sprach-) Signale einschließlich dichotischen Hörens und Verstehens (auditory performance in competing acoustic signals including dichotic listening) Fähigkeiten des Hörens und Verstehens von Signalen, deren Qualität eingeschränkt ist (auditory performance with degraded acoustic signals)

Ausgeschlossen wurden in der neuen Definition Einschränkungen in einer oder mehrerer der folgenden Leistungen [1]:

Phonologische Bewusstheit einschließlich auditiver Analyse und Synthese (phonological awareness, auditory analysis & synthesis) Auditive Aufmerksamkeit (attention to auditory information) Auditives Gedächtnis einschließlich Langzeit-, Kurzzeit- und Arbeitsgedächnis (memory for auditory information) Sprachverstehen, Sprachverständnis und Interpretation des Gehörten (comprehension and interpretation of auditorily presented information)

Natürlich weiß man auch in Amerika, dass diese Bereiche des Hörens häufig bei Menschen mit APD (und AVWS) gestört sind. Die neue Definition erkennt sie aber nicht mehr als primäre, sondern lediglich als sekundäre (Folge-) Erscheinungen und Komorbiditäten an und ordnet sie höheren kognitiven und sprachlichen Leistungen zu (higher order cognitive-communicative and/or language-related functions) [2] [3].

Was bedeutet die neue amerikanische Definition in der Praxis? Das reduzierte auditive Kurzzeit- (und/oder Arbeits-) Gedächtnis, die geringe auditive Aufmerksamkeit und die eingeschränkte phonologische Bewusstheit werden nur noch dann als Symptome einer APD anerkannt und mit auditiv wirksamen Maßnahmen behandelt, wenn gleichzeitig auch Störungen z. B. der auditiven Unterscheidungsfähigkeit oder Mustererkennung, d. h. Einschränkungen von spezifisch auditiven Symptomen, vorliegen [4]. Andernfalls werden die Einschränkungen als Störungen anderer Hirnleistungen angesehen, z. B. Lernstörungen. Die neue Definition APD schließt also Leistungen ein, die dem deutschen Begriff auditive Verarbeitung entsprechen. Die meisten Leistungen, die man im Deutschen unter auditiver Wahrnehmung versteht, gelten in Amerika als höhere kognitive und sprachliche Leistungen. Und: Für die oft als ICD-10-Ziffer F80.2 klassifizierte AVWS wäre eine noch zu schaffende H-Ziffer zu bevorzugen. Haarspalterei?

Keineswegs: Für die Behandlung von Kindern im deutschen Gesundheitssystem kann die Übertragung des amerikanischen Konsensus bedeuten, dass bei Störungen höherer kognitiver und sprachlicher Leistungen eine pädaudiologische Diagnostik „basaler” auditiver Leistungen bzw. auditiver Verarbeitungsleistungen durchgeführt werden muss. Stellt sich dann heraus, dass nur die höheren kognitiven und sprachlichen Leistungen eingeschränkt sind, nicht aber (basale) auditive Verarbeitungsleistungen, so kann ein sonderpädagogischer Förderbedarf angenommen und eine Behandlung zu Lasten der Kostenträger im Gesundheitswesen nicht mehr vorgesehen werden. Damit würden sich in letzter Konsequenz nach der Diagnosesicherung sowohl die Zuständigkeit als auch die Finanzierung verschieben.

Derzeit wird der amerikanische Konsensus im deutschsprachigen und französischsprachigen Raum kontrovers diskutiert. Abgesehen davon, was Experten als wissenschaftlich „richtig” oder „falsch” ansehen, hätte die Übertragung der „strengen” amerikanischen Definition auf die deutsche AV(W?)S-Definition den Vorteil, dass die Diagnose nur auf Kinder angewendet wird, deren Beschwerden ausschließlich auf auditive Probleme zurückgeführt werden können. Einem unkritischen und zu weit gefassten Gebrauch der Diagnose AVWS würde dadurch entgegengetreten. Nachteilig wäre, dass eine möglicherweise wirksame Übungsbehandlung zu restriktiv indiziert wird. Wir dürfen auf weitere Reaktionen zum amerikanischen Konsensuspapier gespannt sein.

Literatur

  • 1 American Speech-Language-Hearing Association: (Central) auditory processing disorders. Technical report 2005. Available at http://www.asha.org/members/deskref-journals/deskref/default
  • 2 Bellis T J. Redefining auditory processing disorder. An audiologist‘s perspective. The ASHA Leader 2004 March 30: pp.6, 22-23
  • 3 Richard G. Redefining auditory processing disorder. A speech-language pathologist‘s perspective. The ASHA Leader 2004 March 30: pp.7, 21
  • 4 Ptok M. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Erläuterungen zum „Technical Report” der ASHAHNO online publiziert am 12. Oktober 2005, 10.1007/s00106 - 005 - 1334-y

Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler

Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Ratzeburger Allee 160

23538 Lübeck

Email: rainer.schoenweiler@phoniatrie.uni-luebeck.de

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