physioscience 2006; 2(4): 133-134
DOI: 10.1055/s-2006-927243
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Physiotherapeuten als Erstkontakt in Deutschland?!

K. Lüdtke1
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Publication Date:
21 November 2006 (online)

Physiotherapeuten als Erstkontakt - ein heiß diskutiertes Thema, da der Erstkontakt von Patienten beim Physiotherapeuten (also ohne vorherigen Besuch beim Arzt) doch zunächst nur Vorteile mit sich zu bringen scheint, z. B. eine Unabhängigkeit von ärztlichen Verordnungen und somit auch von Budgets, Indikationskatalogen und weiteren Kürzungen im Gesundheitssystem. Patienten sparen sich Wartezeit auf einen Arzttermin und den Zeitaufwand, den ein solcher Termin oft bedeutet. Die Ausgaben für Arztbesuche wären deutlich geringer.

In der Zeitschrift für Physiotherapeuten war dieses Jahr zu lesen: „Durch die wissenschaftlichen Entwicklungen, die fortschreitende Professionalisierung und die angewandte Qualitätspolitik ist der Physiotherapeut innerhalb des Gesundheitswesens zu einem maßgeblichen, herausragenden Sachverständigen auf dem Gebiet von Beschwerden geworden, die mit der Bewegungsfunktionalität zu tun haben. Auf dem Gebiet der Bewegungsfunktionalität übersteigt das Fachwissen des Physiotherapeuten oft das des Hausarztes. Dadurch ist der Zugang des Patienten zur Physiotherapie auf der Basis einer Überweisung nicht mehr zeitgemäß” [4].

Aber: Gibt es in Deutschland bereits Physiotherapeuten, die für diese Funktion ausgebildet sind? Welche Anforderungen werden an Erstkontakt-Physiotherapeuten gestellt? Welche Qualifikation muss ein Physiotherapeut vorweisen, um diesen Anforderungen zu genügen?

Weiterhin wäre zu klären, welche Zuweisungsstrukturen innerhalb des Gesundheitssystems neu organisiert werden müssen. Wenn die klinische Situation des Patienten z. B. weitere Diagnostik erforderlich macht, wird dann vom Physiotherapeuten zum Hausarzt oder zum Facharzt überwiesen? Kann ein Physiotherapeut, wie z. B. in Australien direkt zum Röntgen überweisen? Wer würde so entstandene Röntgenbilder beurteilen?

Im Sinne der Klientenzentriertheit stehen natürlich kurze Wege, eine schnelle Diagnostik, eine zielgerichtete Behandlung und somit eine zügige Verbesserung der Symptomatik im Zentrum jeglicher Veränderung.

Ein Erstkontakt-Physiotherapeut muss meiner Meinung nach über solide und breit gefächerte Basiskenntnisse in der allgemeinen und speziellen Krankheitslehre verfügen, um zwischen physiotherapeutisch behandelbaren Symptomen und Erkrankungen zu unterscheiden, die ärztlicher Diagnostik und Interventionen bedürfen. Dazu gehört zunächst einmal das Erkennen von so genannten Red flags [2] [3]) als Indikatoren für ernsthafte Erkrankungen. Hier kann der Zeitfaktor eine wichtige Rolle spielen, wenn sich z. B. hinter den Kopfschmerzen ein Hirntumor verbirgt oder die ausstrahlenden Schmerzen in den linken Arm auf einen drohenden Herzinfarkt deuten. In diesen Fällen könnte eine Serie von Probebehandlungen lebensbedrohlich sein.

Neben der Kenntnis von Indikatoren für physiotherapeutisch nicht behandelbare Symptome gehört zu den Qualitäten eines Erstkontakt-Physiotherapeuten somit auch die frühzeitige Einsicht, wenn physiotherapeutische Behandlungsmethoden wider Erwarten unwirksam sind. Eine entscheidende Bedeutung kommt hier der konsequenten Wiederbefundung zu, einem der Schlüsselelemente des therapeutischen Clinical Reasoning.

Es scheint also sinnvoll, Berufserfahrung vorauszusetzen, die eine gewisse Sicherheit im Erkennen klinischer Muster, jedoch keine Garantie für einen Expertenstatus bietet [1]. In den Niederlanden darf seit Januar 2006 ohne ärztliche Verordnung behandelt und Physiotherapie-Absolventen der Hochschulen dürfen ab dem Examen in 2006 direkt als Erstkontakt eingesetzt werden. Das Gleiche gilt im privaten Gesundheitssystem von Australien und Großbritannien. Dort gehört die Schulung von Red flags und klinischen Mustern zum festen Bestandteil des Grundausbildungskurrikulums. Immer mehr europäische Länder (z. B. Schweden, Norwegen) folgen diesen Beispielen.

Interessant wird in diesem Zusammenhang erneut die Diskussion um die Qualifikation zum Fachphysiotherapeuten (Extended scope practitioner in England und Australien). Dies hätte den Vorteil, dass das erforderliche Wissen in Bezug auf die relevanten Red flags/Pathologien/Mustererkennung auf einen Fachbereich begrenzt wäre. So sollten sich z. B. Patienten mit Kniebeschwerden nur bei einem Fachphysiotherapeuten der Orthopädie und solche mit Restsymptomatiken nach Apoplex nur bei einem Fachphysiotherapeuten der Neurologie vorstellen.

Zurzeit gibt es die Überlegung, dass möglicherweise Hochschulabsolventen mit Master-Abschluss (in Deutschland höchster Grad der physiotherapeutischen Ausbildung) für diese Position geeignet seien. Weiterhin kann spekuliert werden, dass es sich bei Master-Absolventen um hochmotivierte Kollegen handelt, die nicht zuletzt durch den akademischen Hintergrund gelernt haben, sich aktuelle Literatur zu beschaffen und diese kritisch zu bewerten. Der Schwerpunkt bei einem Master-Studium liegt jedoch oft auf der wissenschaftlichen Arbeit. Die Herausforderungen beim Erstkontakt sind aber sehr praktischer Art. Demnach erscheint eine automatische Qualifizierung durch ein Master-Studium ohne weitere spezifische Fortbildung wenig sinnvoll.

Anders herum betrachtet, ist es auch nicht gerechtfertigt, examinierte Physiotherapeuten, die als Erstkontakttherapeuten tätig sein wollen, im Rahmen eines Master-Studiums 3 Jahre akademisch auszubilden, da dies die Anforderungen seiner zukünftigen Tätigkeit übersteigt und einen unproportional hohen Zeitaufwand und finanzielle Mittel erfordert.

Was ist also die Lösung? Zwei Aspekte bilden eine Grundvoraussetzung:

Es muss gewährleistet sein, dass die Grundausbildung ab sofort auf eine mögliche Rolle als Erstkontakt-Physiotherapeut vorbereitet, d. h. das Erkennen von Red flags und Symptommustern in allen Bereichen der Physiotherapie gelehrt wird. Physiotherapeuten mit bereits abgeschlossener Berufsausbildung, die als Erstkontakt fungieren wollen, müssen diese Ausbildungsaspekte im Rahmen einer Fortbildung nachholen. Dies ließe sich auf akademischer Ebene (z. B. mit Credit points zum Bachelor) oder in Fortbildungszentren realisieren.

Physiotherapie als Erstkontakt wäre ein großer (Fort-) Schritt für unsere Profession und wenn die Frage der Ausbildung bzw. Qualifikation sinnvoll gelöst ist, auch eine positive Entwicklung für Patienten. Dieses Vorgehen sollte jedoch gut durchdacht vollzogen werden.

Literatur

  • 1 Jones M. Clinical Reasoning in Manual Therapy.  Physical Therapy. 1992;  72;12 875-884
  • 2 Royal College of General Practitioners. .Clinical Guidelines for the Management of Low Back Pain. London; Royal College of General Practitioners 1996
  • 3 Royal College of General Practitioners .Clinical Guidelines for the Management of Low Back Pain. London; Royal College of General Practitioners 1999
  • 4 Ummels R. Direkte Zugänglichkeit - was bedeutet das für den Beruf des Physiotherapeuten?.  Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2006;  58 1114-1117

Kerstin Lüdtke, PT, MSc

Rückenzentrum am Michel

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Email: kerstin_luedtke@hotmail.com

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