physioscience 2006; 2(2): 45-47
DOI: 10.1055/s-2006-926799
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Professionalisierung der Physiotherapie in der Schweiz

J. Kool, K. Niedermann
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Publication Date:
19 May 2006 (online)

Auch in der Schweiz befindet sich die Physiotherapie in einem rasanten Veränderungsprozess. Für die Zukunft der Physiotherapie und ihre Professionalisierung ist es wichtig, diese Entwicklung zu verstehen und zu nutzen.

Eine professionalisierte Physiotherapie zeichnet sich besonders durch 3 Merkmale aus:

Die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen müssen in der Ausbildung auf ein erfolgreiches, selbst bestimmtes und lebenslanges Lernen vorbereitet werden. Dies erfordert eine entsprechende von allen Dozenten gelebte Ausbildungskultur, in der diese Zielsetzung eine zentrale Stelle einnimmt. Die selbstständige Informationssuche ist notwendig, um auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben und verstärkt die Autonomie der Physiotherapie. Lebenslanges Lernen ist in aller Munde und in der Mehrheit der Berufe wichtig für die persönliche Zukunft. Eine professionalisierte Physiotherapie muss durch Forschung und Lehre selber zum Wissensschatz des Berufsstandes beitragen. Diese Entwicklung ist bereits angelaufen, was sich in einer stetig wachsenden Anzahl an Physiotherapie-Forschungsberichten in der Schweiz äußert. Eine professionalisierte Berufsgruppe zeichnet sich durch eine praktische Tätigkeit mit professioneller Autonomie, Kompetenz und Eigenverantwortung aus. Die weitere Entwicklung der Physiotherapie auf dieser Ebene hängt stark mit den ersten beiden Punkten zusammen.

Verschiedene Faktoren haben die Veränderung und Professionalisierung der Physiotherapie in Gang gesetzt. Dabei spielte das Aufkommen der Evidenz-basierten Medizin (EBM) in den 80er-Jahren eine große Rolle. Es entstand ein Druck, dem sich auch die Physiotherapie, die sich bis dahin vor allem empirisch entwickelt hatte, nicht entziehen konnte. EBM förderte die Professionalisierung der klinischen Entscheidungsfindung, weg von autoritären Entscheidungen hin zu Entscheidungsfindungen, die Erkenntnisse aus der Forschung einbeziehen, ohne dabei die klinische Erfahrung der Physiotherapeuten zu negieren. Die Auseinandersetzung mit der EBM zeigte deutlich, dass weitere Studien notwendig sind, die wichtige praxisrelevante Fragen untersuchen und beantworten.

Ein weiterer Impuls für die Professionalisierung der Physiotherapie in der Schweiz gab das 1996 eingeführte neue Krankenversicherungsgesetz (KVG). Dieses stellt an jede im Gesundheitswesen erbrachte Leistung den Anspruch der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit und verpflichtet alle Berufsgruppen dazu, ein Qualitätsmanagement zu implementieren. Somit hat auch das neue KVG die Entwicklungen in der Physiotherapie stimuliert. Um den Ansprüchen des KVG zu genügen, sind auf eine methodologisch korrekte Datenerhebung, Auswertung und Interpretation basierende Studien von großer Bedeutung.

Ein dritter, die Professionalisierung fördernder Punkt sind die schrumpfenden Ressourcen im Gesundheitswesen und der damit einhergehende Spardruck auch auf die Physiotherapie. Daraus folgte die Erkenntnis, dass die Physiotherapie ihr Schicksal zum Teil selber in der Hand hat. Wir müssen selbst die Initiative übernehmen, um die Wirksamkeit von Physiotherapiemethoden zu untersuchen. Andere Berufsgruppen werden es nicht für uns tun. Wir selber müssen also Antwort auf unbequeme Fragen geben - je früher, desto besser!

Der vierte Faktor, der die Professionalisierung in der Schweiz vorantreiben wird, umfasst das neue Berufsbildungsgesetz und die neue Bildungssystematik. Der Schweizerische Physiotherapieverband hat sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass die Physiotherapieausbildung von September 2006 an in der gesamten Schweiz auf Fachhochschulebene angeboten wird.

Die vorrangige Aufgabe der Fachhochschule besteht darin, die Studierenden auf die Anforderungen vorzubereiten, die heutzutage an die Profession Physiotherapie gestellt werden. Sie hat aber auch den expliziten Auftrag, Forschung zu betreiben. Das ist eine völlig neue Situation für unsere Berufsgruppe, die eine qualitative Annäherung an die Physiotherapie der führenden Länder ermöglicht. Allerdings ist die Fachhochschule selbst für die Beschaffung der finanziellen Mittel für die Forschungsprojekte verantwortlich. Somit hängt die Umsetzung des Forschungsauftrags zu einem großen Teil vom Erfolg der Verantwortlichen der Fachhochschule bei der Beschaffung von Subventionen ab.

Die beschleunigte Entwicklung und Professionalisierung der Physiotherapie waren auch die Kernargumente für den Aufbau einer universitären Weiterbildung Physiotherapie-Wissenschaften (PTW) im Jahre 2002. Das Programm vermittelt Physiotherapeuten das erforderliche Wissen und die Fertigkeiten für die Planung und Durchführung klinischer Studien. Mehrere PTW-Absolventen konnten ihre Master-Arbeiten in anerkannten Fachzeitschriften veröffentlichen.

Das PTW-Studium und verschiedene andere neuen Ausbildungsmöglichkeiten haben zu einer Verbesserung der beruflichen Perspektive für Physiotherapeuten geführt. Früher waren die beruflichen Möglichkeiten nach der Physiotherapieausbildung sehr begrenzt. Dank verbesserter Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten finden heute immer mehr Physiotherapeuten eine Anstellung im Management von Kliniken, bei Versicherungen oder in der Industrie. Der Physiotherapieberuf ist somit keine Sackgasse mehr.

Wir freuen uns sehr über die Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Physiotherapieverband FISIO und dem Thieme Verlag. physiosience hat sich innerhalb eines Jahres erfolgreich etabliert. Ein wichtiger Vorteil der Zeitschrift besteht darin, dass sie viele Physiotherapeuten im deutschsprachigen Raum erreicht. Die deutschsprachigen Verbandsmitglieder in der Schweiz erhalten seit diesem Jahr abwechslungsweise die Verbandszeitschrift und physioscience. Für die italienisch- and französischsprachigen Mitglieder hat der Verband vergleichbare Abkommen mit anderen Zeitschriften vereinbart. So konnte das Angebot an Fachartikel für die Mitglieder des schweizerischen Berufsverbandes verbessert werden. Wir sind überzeugt, dass physioscience auch für forschende Physiotherapeuten aus der Schweiz eine wichtige Plattform wird.

Studienergebnisse sind besonders wichtig, wenn sie unsere Praxis verändern. Solche Publikationen entsprechen einem schönen Gedicht (engl. poem). Im englischen Sprachraum hat sich das Kürzel POEM etabliert, das für Patient-oriented evidence that matters (patientenbezogene Evidenz von Bedeutung).

Wir hoffen, dass auch die Publikationen in der physioscience viele bedeutende Resultate präsentieren werden und Anlass zur Verfassung zahlreicher POEMs sind.

Jan Kool, PT, PhD

Rehabilitationszentrum Klinik Valens

CH-7317 Valens

Email: j.kool@klinik-valens.ch

URL: http://www.klinik-valens.ch

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