ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2005; 114(9): 367
DOI: 10.1055/s-2005-919058
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Versuchskaninchen Mensch

Cornelia Gins
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Publication Date:
07 October 2005 (online)

Im ersten Prozess um das umstrittene Medikament Vioxx hat ein US-Gericht dem Pharmakonzern Merck eine Mitschuld am Tod eines 59-jährigen Texaners gegeben. Sie sprachen der Witwe Schadenersatz von 24 Millionen Dollar zu. Die Witwe hatte erklärt, der Herztod ihres Mannes - ein Marathonläufer - sei auf die Einnahme von Vioxx zurückzuführen. Merck kündigte Berufung an.

Bis heute gebe es keinen zuverlässigen wissenschaftlichen Beweis, so der Anwalt Jonathan Skidmore des Unternehmens, dass Vioxx zu Herzrhythmusstörungen geführt habe, die zusammen mit einer Herzvorerkrankung zum Tode des Patienten führten. Merck habe jederzeit verantwortlich gehandelt, von der Erforschung des Mittels bis zum freiwilligen Marktrückzug.

Angeblich soll Merck die Risiken von Vioxx jahrelang verheimlicht haben. Das Urteil wird richtungweisend für die noch ausstehenden Klagen betrachtet. Inwieweit deutsche Kläger erfolgreich sein werden, steht noch aus.

Die Anschuldigung der mutwilligen Verheimlichung negativer Studienergebnisse ist schon ziemlich scharfer Tobak. Als braver, aufrichtiger Bürger ist es schwer vorstellbar, dass ein Weltunternehmen sich auf diese Weise sehenden Auges strafbar macht. Werden doch ohne Ende Gelder für Forschung und Wissenschaft ausgegeben, und begründet nicht die Pharmaindustrie die steigenden Kosten ihrer Produkte gerade mit dem erhöhten finanziellen Aufwand für diese Forschungsprojekte? Doch was nützt es, wenn Studien zur Verfügung stehen, diese aber aus welchen Gründen auch immer nicht veröffentlicht oder nicht gelesen werden. So entstehen verzerrte Bewertungen von Therapien. Doch der Markt verlangt, und die Zeiten, in denen geforscht und geprüft wird, werden immer kürzer. Gerade die Pharmaindustrie bildet eine große Lobby, sodass sich der Staat kaum den Forderungen nach kürzeren Zulassungszeiten für Medikamente entziehen kann. Die oberste Arzneimittelbehörde soll daher in eine Bundesbehörde nach privatem Recht umgewandelt werden.

Auch unser Fachgebiet bildet da keine Ausnahme. Werden doch häufig auf wissenschaftlichen Kongressen Einjahresergebnisse zu neuen Werkstoffen oder Behandlungsmethoden, ausgeführt an einer kleinen Probandengruppe, als die Innovation schlechthin vorgestellt. Verständlich, dass viele Kollegen dankbar auf den neuen, viel versprechenden Zug aufspringen, denn wer zuerst kommt, mahlt schließlich auch zuerst. Zumal heutzutage die Laienpresse und somit der Patient oft eher informiert ist als der Kollege in der Praxis.

Medizin ohne Risiko gibt es leider nicht. Irgendwann muss ein Medikament, ein Werkstoff oder eine Therapie sich am Patienten bewähren. Ein behutsamer und aufmerksamer Umgang mit Neuentwicklungen kann aber zur Therapiesicherheit beitragen. Dem Konzept der evidenzbasierten Medizin kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Allerdings müssen wir Mediziner damit leben, dass das letzte Glied in einer Versuchsreihe nun mal der Mensch ist.

Dr. med. dent. Cornelia Gins

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