Rehabilitation (Stuttg) 2005; 44(4): 229-236
DOI: 10.1055/s-2005-866907
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

ICF und sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben: Alles klar? - Ein Diskussionsbeitrag

ICF and Medical Assessment of Work-Related Capacity: Everything's Fine? - Contributing to the DiscussionM.  Körner1
  • 1Ärztliche Abteilung der Landesversicherungsanstalt Westfalen, Münster
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Publication Date:
01 August 2005 (online)

Zusammenfassung

Das internationale Klassifikationssystem ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) weckt Aufmerksamkeit für die Komplexität der mit einer gesundheitlichen Störung oder Krankheit einhergehenden Gesamtsituation. Es wird die Frage gestellt, in welcher Weise die durch die ICF definierten verschiedenen Komponenten funktionaler Gesundheit sowie das zwischen ihnen bestehende Beziehungsgeflecht Bedeutung für den Erhebungs- und Beurteilungsprozess bei der Begutachtung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben für die gesetzliche Rentenversicherung gewinnen können. Vor diesem Hintergrund werden mögliche Strategien kritisch diskutiert: Bezugnahme auf klinische Intuition, Algorithmisierung von Beurteilungspfaden, an der ICF ausgerichtete Interpretation bewährter klinischer Diagnostik, Einsatz spezieller Diagnostik auf der Ebene der Aktivität gemäß ICF. Ein eindeutiger „Königsweg” ist bislang nicht erkennbar. Es ist nicht zu erwarten, dass Untersuchungsverfahren für einen bestimmten durch die ICF definierten Bereich die übrige Diagnostik grundsätzlich in den Hintergrund drängen werden. Zukünftige gutachterliche Standards sollten möglichst klar beschreiben, welche Bedeutung Befundergebnissen aus den verschiedenen Bereichen für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben jeweils zukommen kann. Eine solche Gewichtung kann die ICF selbst nicht leisten.

Abstract

The ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) calls attention to the complexities associated with disturbances of health. The question raised is how the various constituents and the resulting network as defined by this Classification can gain importance for medical expertise under the statutory pension insurance scheme concerning work-related capacity. Possible variations of strategy are discussed: clinical intuition, algorithmic pathways, proved medical diagnostics, particular diagnostics of activity according to ICF. A genuine „silver bullet” is not in evidence thus far. It cannot be expected that diagnostics relating to a certain sector of the ICF will basically eclipse the rest. Future standards of medical expertise should specify as clearly as possible the impact of the diverse diagnostic findings on the assessment of work-related capacity. Framing emphasis in this way cannot be performed by the ICF on its own.

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Dr. med. Michael Körner

LVA Westfalen · Ärztliche Abteilung

Gartenstraße 194

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