Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55(5): 239-240
DOI: 10.1055/s-2005-866852
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nutzt die „Kundenorientierung” den Patienten?

Does the „Customer Orientation” Bring a Benefit to the Patients?Christina  Schröder1 , Elmar  Brähler1
  • 1Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig
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Publication Date:
04 May 2005 (online)

In Deutschland befindet sich das medizinische System in einer dramatischen Umstrukturierung: Gesundheitsstrukturgesetz, Gesundheitsmodernisierungsgesetz, EuGH-Urteil zu den Dienstzeiten der Ärzte, Einführung der integrierten Versorgung, Umsetzung einer neuen Approbationsordnung für Ärzte und kurz bevorstehend auch noch das Präventionsgesetz. Hinzu kommen die bekannten Missstände wie Ärztemangel, unausgewogene territoriale Verteilung von Fachärzten oder Überforderung der Altenpflege. In erster Linie wollen die Gesetzgeber Über-, Unter- und Fehlversorgung vermeiden und sogar erreichen, dass das medizinische System neben seinem kurativen Charakter vorauseilend eine präventive Wirkung entfaltet. Außerdem soll durch die Einführung der integrierten Versorgung eine bessere Vernetzung von ambulanten und stationären therapeutischen Leistungen und Rehabilitation erfolgen. Das gesamte Paket wird von einer gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätssicherung flankiert, deren Effekte noch zweifelhaft sind und die selbst einen beträchtlichen bürokratischen Aufwand erfordert. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass kritische Stimmen von einer Neuerungswelle sprechen, die mit „Brachialgewalt und Verordnungswut” (Kiess, W. Reguliert und verregelt. Die deutsche Hochschulmedizin im Räderwerk der Verordnungen. Forschung & Lehre 8/2004, 437 - 439) über das deutsche Gesundheitssystem hereinbricht.

Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch, dass ein maßgebliches Motiv dieser Aktivitäten die Kostendämpfung im Gesundheitswesen darstellt. So versuchen Länder und Kommunen, unrentable Krankenhäuser zu privatisieren. Dieser Rechtsformwechsel wird durch die flächendeckende Einführung der DRGs und die gewünschte Verkürzung der durchschnittlichen Liegedauer in deutschen Krankenhäusern noch forciert. Die gesamte Entwicklung führt nach dem Willen der Gesetzgeber und laut Voraussagen von Experten zur Schließung von etwa einem Viertel der bundesdeutschen Krankenhäuser sowie zur Reduzierung aller Krankenhausbetten um über ein Drittel, sobald die Einkommenseinbußen der Krankenhäuser nicht mehr durch Übergangsregelungen abgefedert werden. Die Krankenhäuser reagieren auf diese gesetzlichen Rahmenbedingungen mit hektischer Aktivität. Fast alle Krankenhäuser wollen ihre Bedarfsplanungen senken und denken über Zusammenschlüsse und neue Einnahmequellen wie z. B. das Betreiben eigener Ärztehäuser nach. Diese Entwicklung macht auch vor der deutschen Hochschulmedizin nicht Halt, die insbesondere einem Rückzug des Staates aus ihrer Finanzierung ausgesetzt ist und die es schwerer hat als andere Bereiche des Gesundheitssystems, ihre spezifischen Aufgaben in Forschung und Lehre als „marktfähige Ware” anzubieten. Auch hier gibt es an verschiedenen Orten traditionsfeindliche Pläne zur Umstrukturierung, momentan am hervorstechendsten in Mittelhessen, wo die Klinika Gießen und Marburg zusammengelegt und an einen privaten Träger verkauft werden sollen.

Immer wieder wird nun beklagt, dass diese Entwicklung die Medizin bald vollständig einem ökonomischen Diktat unterwirft, inzwischen schon mehr kaufmännische als ärztliche Gesichtspunkte das Geschehen beeinflussen und Patienten längst zu randständigen Faktoren geworden sind. Da die Patientenorientierung das entscheidende Credo der psychosozialen Medizin ist und bleibt, obliegt es gerade den dazugehörigen Fachdisziplinen, die komplexen Auswirkungen der beschriebenen Entwicklung auf die individuelle Patientensituation zu hinterfragen. Werden versorgte Patienten (die aus dem enger werdenden Versorgungsnetz herausfallenden Patienten sind ein hier nicht berücksichtigtes zusätzliches Problem der Umstrukturierung) systematisch und unabhängig von paternalistischen Haltungen des medizinischen Personals zu Opfern der Umstrukturierung, weil Pflegekräfte und Ärzte aufgrund des immensen Zeit- und Rationalisierungsdrucks Autonomie und Bedürfnisse von Patienten wider besseren Wollens und Wissens übergehen müssen?

In Anbetracht eines potenziellen Doppeleffektes des ökonomischen Hebels im Gesundheitssystem ist diese polemische Frage unseres Erachtens nicht zwangsläufig mit ja zu beantworten. Offensichtlich befinden sich Krankenhausunternehmen - ob privat, staatlich oder als eine Zwischenform konzipiert - in einem Kampf um Marktanteile, der den Kampf um den einzelnen „Kunden” einschließt. Ein Patient ist sittlich betrachtet natürlich mehr als ein Kunde, kann jedoch in der Rolle des „bedingten Kunden” zu einem aktiven und kritischen Mitwirkenden werden, der letztlich vom Kundenstatus profitiert. Denn Krankenhausbetreiber versuchen auf dem Markt zu bestehen, indem sie die Patientenperspektive zu einem Erfolgsfaktor gegenüber der Konkurrenz erheben. Es ist für sie von unmittelbarem wirtschaftlichen Interesse, Imageanalysen über das eigene Haus und Erhebungen der Patientenzufriedenheit zu finanzieren, um anhand einer Baseline gezielte Verbesserungen vornehmen zu können.

Eine so verstandene Dienstleistung ist nicht nur auf kommunikative und psychosoziale Kompetenzen als Aushängeschild angewiesen, sondern muss tatsächlich Mittel und Wege finden, diese im Umgang mit Patienten zu realisieren und auf ein professionelles Niveau zu heben. Obwohl nicht von medizinethischen Werten getragen, könnte eine solche „Kundenorientierung” dennoch und im besten Sinne die von unseren Fächern immer wieder beschworene Patientenzentrierung stärken. Diesem Trend kommt die in der Neuen Ärztlichen Approbationsordnung erstmals inhaltlich verankerte Patientenorientierung und die im letzten Jahrzehnt deutlich verbesserte Rechtssituation von Patienten entgegen. Auch der inzwischen als revisionsbedürftig erkannte Umgang mit ärztlichen Fehlern in Deutschland kann zukünftig dazu beitragen, das Patientenvertrauen zu erhöhen und Qualitätsstandards einzulösen.

Der Begriff „Kundenorientierung” bleibt jedoch zwiespältig. Deutlich wird dieser Zwiespalt am Beispiel des beliebt gewordenen und zu Missbrauch und Vereinfachung einladenden Vergleichs eines Krankenhauses mit einer Autowerkstatt. In einer Glosse des Deutschen Ärzteblattes stand vor einiger Zeit zu lesen, dass Autos und Autobesitzer einen besseren Service als Patienten erhalten (Wenderlein M. Autos werden besser behandelt. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 100, H. 3, 17.1.2003). Der Vergleich sollte provozieren und zum Nachdenken anregen, weil darin Autos und Patienten Objekte darstellen, die gleichermaßen erfolgreich standardisierten Abläufen unterzogen werden können. Abgesehen davon, dass Patienten unter schlecht organisierten Abläufen zusätzlich leiden, weil diese auch ihr Wohlbefinden beeinträchtigen, bleibt bei Patienten der Erfolg gerade dann aus, wenn sie nicht in einem ausgewogenen Verhältnis von individuellen und standardisierten Abläufen betreut werden.

Wir sehen deshalb eine wichtige Aufgabe der psychosozialen Medizin darin, die riskanten Chancen einer ernst gemeinten „Kundenorientierung” für die Humanisierung des Medizinbetriebs zu nutzen, das heißt insbesondere, die „Kundenorientierung” vor ausschließlich ökonomischen Auslegungen zu schützen und mit der individuellen Patientenperspektive zu vereinbaren.

Prof. Dr. med. Elmar Brähler

Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie · Universität Leipzig

Stephanstraße 11

04103 Leipzig

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