ZFA (Stuttgart) 2005; 81(8): 318
DOI: 10.1055/s-2005-836884
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Arzneimittelsicherheit in der Praxis

„Less is more” L. Mies van der Rohe (1886-1969)W. Niebling
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Publication Date:
11 August 2005 (online)

Zahlen und Hintergründe….

In den deutschen Vertragsarztpraxen werden pro Jahr zirka 750 Millionen Arzneimittelverordnungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherungen veranlasst, gut zwei Drittel davon durch Hausärztinnen und -ärzte. Die daraus resultierenden Kosten sind bekannt, sie liegen mit ca. 24 Mrd. Euro im Bereich der Gesamtvergütung aller Vertragsärzte. Weit weniger im Bewusstsein der beteiligten Akteure dürften Zahlen sein, die in dem kürzlich publizierten AVP-Sonderheft „Pharmakovigilanz” der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zitiert werden:

bei etwa 5 % der medikamentös behandelten Patientinnen und Patienten treten unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auf sie sind in 3-6 % Ursache von stationären Behandlungen (werden aber meist nicht als Auslöser erkannt) etwa 40 % werden als vermeidbar eingestuft die Zahl der an einer UAW Verstorbenen übersteigt in den USA und England die der im Straßenverkehr Verunglückten deutlich. Schätzungen für Deutschland reichen von 10 000 bis 50 000 Todesfälle/Jahr.

Nüchterne Zahlen, die nur unzureichend das individuelle Leid der Betroffenen und deren Angehörigen widerspiegeln. Zahlen, die irritieren und alarmieren, gerade vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, so z. B.

der zunehmenden Globalisierung im Bereich des Pharma-Marketing. Die gleichzeitige Zulassung neuer Arzneimittel in vielen Ländern oder europaweit birgt das Risiko, dass bei bis dato nicht bekannten UAW Tausende von Behandelten betroffen sein können bevor geeignete Abwehrmaßnahmen getroffen werden der Problematik der Übertragbarkeit von Ergebnissen zeitlich begrenzter, meist im stationären Bereich an einem selektierten Patientengut (Ausschluss von Kindern oder multimorbiden geriatrischen Patienten) durchgeführter Zulassungsstudien auf die Bedingungen der ambulanten Krankenversorgung der defizitären Motivation und fehlender Anreize für die Meldung wahrgenommener oder vermuteter UAW („Underreporting”) trotz Pflicht zur Meldung nach § 6 der Musterberufsordnung) der Ausweitung der Selbstmedikation u. a. durch den Wegfall der Erstattung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel und aggressiver Werbekampagnen der Pharmaindustrie eines exponentiell wachsenden Marktes für Life-Style-Drogen und für nicht den gesetzlichen Bestimmungen der Pharmakovigilanz unterliegenden „komplementären” und „alternativen” Medikamenten der Probleme der Indikationsausweitung und des „Off label”-Gebrauches neuer und/oder meist kostenträchtiger Arzneimittel und schließlich der zunehmenden Verlagerung riskanter Therapieformen aus dem stationären in den ambulanten Versorgungsbereich.

Prof. Dr. W. Niebling

Facharzt für Allgemeinmedizin, Lehrbereich Allgemeinmedizin · Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Schwarzwaldstraße 69

79822 Titisee-Neustadt

Email: wniebling@t-online.de

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