Notfall & Hausarztmedizin (Hausarztmedizin) 2004; 30(11): B 503
DOI: 10.1055/s-2004-860967
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Strukturprobleme des Notarztdienstes: ist der deutsche Paramedic ein Ausweg?

Peter Knuth
Further Information

Publication History

Publication Date:
22 December 2004 (online)

Es ist nun auch in der Politik und in der Öffentlichkeit angekommen, auf das Insider bereits seit etlicher Zeit warnend hinweisen: Ärztemangel und damit verbundene Lücken in der flächendeckenden notärztlichen Versorgung. So weist die Arbeitsgemeinschaft der Bayerischen Notärzte darauf hin, dass in der Peripherie des Flächenlandes Bayern Notarztstandpunkte gar nicht, oder nur zeitlich eingeschränkt besetzt werden können. Parallel zu dieser personellen Entwicklung kommen auch Veränderungen qualitativer Art im Notarztdienst. Die durch die Gesundheitsreform zum 01.01.2004 eingeführte Praxisgebühr hat nach Berliner Untersuchungen gezeigt, dass es zwar in sozial schwächeren Stadtteilen zu einer Abnahme der regulären Arztbesuche gekommen ist, aber gleichzeitig die Zahl der Notfalleinsätze angestiegen ist. Dieser Verlagerungseffekt ist schon deswegen gesundheitsökonomisch von hoher Brisanz, da der Notfalleinsatz ungleich kostenaufwändiger ist, als ein regulärer Arztbesuch.

Ein weiterer Trend muss Anlass sein, über eine neue Standortbestimmung des Notarztes im Rettungsdienst nachzudenken. In gut belegten Untersuchungen aus einer pfälzischen Großstadt geht hervor, dass der Notarzt in zunehmendem Umfang Aufgaben übernimmt, mit denen er sich als rund um die Uhr verfügbarer bio-psycho-sozialer Ansprechpartner für sozial schwache Bevölkerungskreise in sozialen Brennpunkten bezeichnen ließe. Wenn es notwendig erscheint, angesichts der aufgezeigten Veränderungen im Profil des Notarztdienstes dessen Aufgaben neu zu bestimmen, so ist damit auch zwingend verbunden, über die Rolle des Assistenzpersonals im Rettungsdienst nachzudenken. Es ist legitim, wenn Rettungsassistenten darüber reflektieren, ob sie im Rahmen von „standing orders” erweiterte, bislang dem Notarzt vorbehaltene Maßnahmen durchführen sollten, welche unter dem Vorbehalt der Genehmigung zur Ausübung der Heilkunde stehen. Ebenso klar muss aber in diese Diskussion auch einfließen, dass „standing orders” rein mechanistische Maßnahmen darstellen, welche weder dem Anspruch des Patienten auf umfassende Beurteilung seiner medizinischen Gesamtsituation, noch der notwendigen Abwägung von Nutzen und Risiken medizinischer Maßnahmen gerecht werden können. Ebenso ist nicht zu verkennen, dass bei mechanisierten Aufgaben, wie beispielsweise Intubation, Venenpunktion u.ä. die Übung eine wesentliche Rolle spielt, die wiederum von der Frequenz der Maßnahmendurchführungen abhängt. Hier haben alle bisherigen Erfahrungen gezeigt, dass beim Rettungsassistenten die notwendigen Frequenzen nicht erreicht werden, welche beim Notarzt auch im Wesentlichen durch die regelmäßige klinische Durchführung dieser Maßnahmen gegeben ist.

Ein weiterer, in eine neue Beurteilung der Situation eingehender Punkt ist die Frage der prinzipiellen taktischen Ausrichtung des Rettungsdienstes. Von den zwei Möglichkeiten „scoop and run” oder „stay and play” hat sich in Deutschland, gerade unter der bislang erreichten flächendeckenden Versorgung mit notärztlicher Medizin, das Prinzip „stay and play” herauskristallisiert. Belege für den Vorteil von „scoop and run” sind bisher nur für isolierte penetrierende Traumen, wie zum Beispiel Schussverletzungen im Thorax oder Abdomen geführt worden. Mit einem Systemwechsel auf ein Paramedicsystem müsste auch zwingend die Taktik auf „scoop and run” umgestellt werden, da ein Paramedicsystem eben nur mechanisierte Maßnahmen nach „standing orders” erbringen kann und somit eine Therapie im engeren Sinn erst in der Klinik begonnen werden könnte.

Mit der zunächst logisch erscheinenden Antwort, auf notärztliche Mangelsituationen ein Paramedicsystem einzuführen, verbinden sich vielfältige schwierige Fragen. Eine neue Orientierung für den Notarztdienst ist erforderlich. Sie muss jetzt und gründlich in den Fachzirkeln erfolgen, um Lösungen präsentieren zu können, die man nicht erst dann entwickeln kann, wenn ein System zusammengebrochen ist.

Prof. Dr. med. Peter Knuth

Wiesbaden

    >