Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(51/52): 2766-2769
DOI: 10.1055/s-2004-836109
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Literatur und Medizin im Dialog

Literature and medicine - a dialogueK. Engelhardt
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Publication Date:
16 December 2004 (online)

Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre coeur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu anderem wenden. Thomas Mann [21]

Ein Patient kommt wegen Rückenschmerzen zu einer Internistin. Sie hört ihm genau zu, beobachtet Mimik und Gestik, den Ton seiner Stimme, sie beachtet, wie er Symptome und Lebensereignisse schildert. Als er nach wenigen Minuten schweigt und zu weinen beginnt, fragt ihn die Internistin nach der Ursache dieses emotionalen Ausbruchs. Er antwortet, bisher habe ihn niemand so aussprechen lassen [7]. Naturwissenschaft erklärt Krankheiten, Literatur hilft, Kranke zu verstehen. Schriftsteller erzählen Geschichten, wie der Patient während der Anamnese seine Geschichte erzählt. Krankheitsdiagnosen sind notwendige Abstraktionen, aber in der Praxis des Arztes geht es nicht nur um das „Management kardiovaskulärer Krankheiten”, sondern um die Begegnung mit Herzkranken. Kritiker wenden ein, dass Literatur und Kunst nichts zu dem medizinischen Fortschritt beitrage, der durch bildgebende Verfahren, Herzkatheter, Endoskopien etc. repräsentiert wird. Jedoch sind neben der wichtigen Pathophysiologie des Körpers das Erleben, die Gefühle und Gedanken des Kranken nicht zu vergessen.

Es wäre allerdings ein Irrtum, anzunehmen, Literatur bleibe in einem unverbindlich-subjektiven Raum. Literatur strebt wie die Medizin nach Objektivität und Vorurteilslosigkeit. „Für Chemiker gibt es auf der Erde nichts Unreines. Der Schriftsteller muss genauso objektiv sein wie ein Chemiker: er muss sich freimachen von der Subjektivität seines Alltags und wissen, dass die Misthaufen in der Landschaft eine sehr beachtliche Rolle spielen, und böse Leidenschaften dem Leben ebenso eigen sind wie gute” [33]. Selbst Geschehnisse, die Schriftsteller „emotional und physisch zutiefst beanspruchen”,beschreiben sie „unparteiisch und unbestechlich” [19]. Dichter und Ärzte dürfen sich durch die Tatsachen des Lebens nicht verwirren lassen. Oft müssen sie einen halben Schritt Abstand nehmen. Literatur ist objektiv und fühlt sich doch wie ein guter Arzt in den Menschen ein. Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und Medizin sind beachtenswert: „Heilkunde und Schreibtum borgen mit Vorteil ihr Licht voneinander, und gehen sie Hand in Hand, geht jeder besser. Ein Arzt, von Schreibeweisheit beseelt, wird ein klügerer Tröster sein..., ein Schreiber aber, der sich auf des Körpers Leben und Leiden versteht..., wird viel voraushaben vor dem, der davon nichts weiß” [22].

Literatur

  • 1 Bedell S E, Graboys T B, Bedell E, Lown B. Words that harm, words that heal.  Arch Intern Med. 2004;  164 1365-1368
  • 2 Benn G. Lebensweg eines Intellektualisten. Klett-Cotta, Stuttgart In: Ges. Werke, Bd. 4, hrg. v. D. Wellershoff 1986: 28
  • 3 Bernhard T. Alte Meister. Suhrkamp, Frankfurt a. M 1985: 271, 273
  • 4 Bernhard T. Ja. Suhrkamp, Frankfurt a. M 1988: 128
  • 5 Brodkey H. Die Geschichte meines Sterbens. Rowolt, Reinbek 1996: 85f, 89
  • 6 Brodsky J. Flucht aus Byzanz. Hanser, München 1988: 9; 99
  • 7 Charon R. Narrative and medicine.  N Engl J Med. 2004;  350 862-864
  • 8 Council on ethical and judicial affairs. Decisions near the end of life.  JAMA. 1992;  267 2229-2233
  • 9 Defoe D. Robinson Crusoe. Manesse, Zürich 1957: 119-120
  • 10 Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten,. übertragen v. E. Littmann, Bd. 1. Insel, Wiesbaden 1953: 47
  • 11 Engelhardt K. Die Krankheit und der Umgang mit ihr. Agenda, Münster In: Kranke Medizin. Das Abhandenkommen des Patienten 1999: 210f
  • 12 Engelhardt K. Herbert Plügge - vergessenes ärztliches Vorbild.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 284-285
  • 13 Fontane T. Der Stechlin. Hanser, München In: Romane und Erzählungen in 3 Bänden, hrg. v. H. Nürnberger, Bd. 3 1985: 445
  • 14 Gogol N. Der Mantel. Manesse, Zürich In: Meistererzählungen 1959: 496f
  • 15 Hildesheimer W. Mozart. Suhrkamp. Frankfurt a. M 1977: 358
  • 16 Hofmann K. Aus Gesprächen mit Thomas Berhard. DTV, München 1991: 53
  • 17 Jaspers K. Nietzsche. De Gruyter, Berlin 1981: 100
  • 18 Kafka F. Ein Landarzt. Fischer, Frankfurt a. M 1961: 129
  • 19 Kertész I. Liquidation. Suhrkamp, Frankfurt a. M 2003: 90-91
  • 20 Macgregor R. The art of medicine: striving for a more holistic view of our patients.  Lancet. 2001;  358 250-251
  • 21 Mann T. Einführung in den Zauberberg. Fischer, Frankfurt a. M In: Der Zauberberg 1960: X
  • 22 Mann T. Joseph und seine Brüder. Fischer, Frankfurt a. M 1964: 692f, 973
  • 23 Mann T. Buddenbrooks. Aufbau-Verlag, Berlin 1965: 577ff
  • 24 Morrison R S, Meier D E. Palliative care.  N Engl J Med. 2004;  350 2582-2590
  • 25 Musil R. Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Reinbek 1978: 154
  • 26 Nabokov V. Das wahre Leben des Sebastian Knight. Rowohlt, Reinbek 1960: 199
  • 27 Nabokov V. Pnin. Rowohlt, Reinbek 1994: 24
  • 28 Plügge H. Der Allgemeinzustand des Schwerkranken. Niemeyer, Tübingen In: Wohlbefinden und Mißbefinden 1962: 62-72
  • 29 Spiro H M. Doctors, Patients, and Placebos. Yale University Press, New Haven 1986: 247
  • 30 Tolstoi L. Krieg und Frieden. 2. Band. Rütten u. Loening, Berlin 1963: 524ff
  • 31 Tolstoi L. Tagebücher 1847 - 1910. Winkler, München 1979: 460
  • 32 Tschechow A. Die Simulanten. Winkler, München In: Erzählungen 1883 - 1887 1968: 204
  • 33 Tschechow A. Briefe 1877 - 1889,. Diogenes, Zürich hrg. u. übersetzt v. P. Urban 1979: 145

Professor Dr. med. Karlheinz Engelhardt

Jaegerallee 7

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