Dtsch Med Wochenschr 2004; 129: S5-S6
DOI: 10.1055/s-2004-824837
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Baltischen Staaten: alte und neue Partner in Europa

Estonia, Latvia and Lithuania - old and new partners in EuropeF. Köhler1 , C. Schierbaum2 , K. Bühlmeyer3 , I. Roots4
  • 1Charité - Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Klinik mS Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Campus Charité Mitte, Berlin
  • 2Referat für bilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bonn
  • 3em. Direktor, Klinik für Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler, Deutsches Herzzentrum München
  • 4 Institut für Klinische Pharmakologie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte, Berlin
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Publication Date:
10 May 2004 (online)

Zwei Ereignisse rücken Litauen, Lettland und Estland in diesem Monat näher in unseren Blickwinkel.

Am 1. Mai treten die baltischen Staaten zusammen mit 7 weiteren Ländern der europäischen Gemeinschaft bei. Obwohl die Gesundheitsversorgung nicht zum Katalog der Betrittsbedingungen (acquis communitaire) gehörte, ist Deutschland durch die Nachbarschaft unmittelbar vom Zustand des Gesundheitswesens in Mittel- und Osteuropa betroffen. Die drei Ostseeländer haben in den vergangenen rund 10 Jahren sehr praktische Erfahrungen mit Themen gemacht, die jetzt als brandneue Lösungen für unsere eigenen Probleme des Gesundheitssystems angeboten werden. Stichworte dazu sind Bürgerversicherung, steuerfinanziertes Gesundheitssystem, Kopfpauschale oder die komplette Trennung von Forschung und Klinik an den Medizinischen Fakultäten.

In drei „Landesvisitenkarten“ möchten wir Ihnen vorstellen, unter welchen Bedingungen unsere baltischen Kolleginnen und Kollegen gegenwärtig praktizieren.

Im großen Unterschied zu Deutschland ist die Medizin in den baltischen Ländern eine Sache der Frauen mit einem Anteil an der Ärzteschaft zwischen 71 % in Estland und 83 % in Lettland. Das zweite Ereignis im Mai 2004 ist das 200-jährige Jubiläum der Medizinischen Fakultät der Universität Tartu (vormals Dorpat).

Diese Gründung durch Zar Alexander I. erfüllte nach heutigem Sprachgebrauch alle Kriterien einer Elite-Universität. Weil Deutsch die damals führende Sprache der Medizin war, wurde Dorpat (Estland war 1804 eine Russische Provinz) die einzige deutschsprachige medizinische Fakultät im Zarenreich. Auch die Lage am Rand des Imperiums in der Nähe zu den führenden medizinischen Fakultäten Preußens in Königsberg (Albertina), in Breslau (Viadrina) und in Berlin (Charité) war nicht zufällig.

Die neue Fakultät wurde gut ausgestattet und bot so vielen innovativen Köpfen aus Deutschland eine große Entfaltungsmöglichkeit.

Die Ernte dieses weitsichtigen Konzeptes waren wegweisende medizinische Entdeckungen im 19. Jahrhundert, die durch die politischen Wechselfälle des 20. Jahrhunderts leider in Vergessenheit gerieten. Wer weiß heute noch, dass Thrombin als erstes in Dorpat isoliert wurde.

Der Nachhall des prägenden deutschen Einflusses lässt sich auch daran messen, dass die estnische Medizinsprache Worte mit deutschen Sprachwurzeln verwendet (z.B. „arst“ für Arzt, „velsker“ für Feldscher oder „neer“ für Niere).

Heute verstehen noch rund 40 Prozent aller Kollegen und Kolleginnen in den baltischen Ländern Deutsch als einzige westliche (Fortbildungs-)sprache.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) seit Beginn der neunziger Jahre abseits der auf die tagesaktuelle Gesundheits-Innen-politik begrenzten Medienwahrnehmung eine sehr erfolgreiche internationale Kooperationsstrategie entwickelt und umgesetzt. Vom BMGS wird die Vermittlung von medizinischen Wissen als effektivste Aufbauhilfe angesehen, um das Niveau der medizinischen Betreuung vor Ort zu verbessern. So konnte durch das BMGS-Modellprojekt „Partnership for the Heart“ (Projektträger: Charité-Universitätsmedizin Berlin) die Säuglingssterblichkeit durch angeborene Herzfehler in Estland zwischen 2000 und 2004 um 29 Prozent gesenkt werden. Welche Chancen solche Kooperationen auch für deutsche Einrichtungen bieten, zeigt der Erfahrungsbericht des deutschen Nachwuchswissenschaftlers Kern über die erste deutsche Gastprofessur in Tartu seit der erneuten Unabhängigkeit.

Im lettischen Beitrag werden am Beispiel der Interventionellen Kardiologie die Probleme eines ökonomischen Schwellenlandes ebenso deutlich wie der gegenseitige Gewinn bilateraler Kooperationen. Wiederum vom BMGS unterstützt wurde Spezialistenwissen zur interventionellen Behandlung von erwachsenen Patienten mit angeborenen Herzfehlern von Deutschland nach Riga transferiert.

Die Schnittstelle zwischen modernen Therapieverfahren und spezifischen Gesundheitsfolgen der Vergangenheit beleuchtet der Artikel zur Schwangerschaftsbetreuung von Eisenmenger-Patientinnen aus Litauen. Dieser kardiologische Notfall war bisher auch für spezialisierte deutsche Zentren eine Rarität. Mit zunehmender Freizügigkeit könnten deutsche Kliniken mit diesem Problem vielleicht schon bald wieder konfrontiert werden.

In einigen Gebieten, wie dem Einsatz der Telemedizin oder der Populationsgenomik, haben die baltischen Ländern bereits heute einen beachtlichen Standard. Hier bieten sich künftig große Potentiale für eine gemeinsame Gesundheitsforschung. Vielleicht folgt der eine oder andere Leser unserem Rat zu einem „go east“.

Dr. med. Friedrich Köhler

Projektkoordinator „Partnership for the Heart”, Universitätsklinikum Charité-Berlin, Medizinische Klinik mS Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Campus Charité Mitte

Schumannstraße 20/21

10117 Berlin

Phone: ++49/30/450514184

Fax: ++49/30/450514928

Email: partner.heart@charité.de

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