Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(16): 871
DOI: 10.1055/s-2004-823031
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Faszination und Dilemma des Alterns

Ageing: fascination and dilemmaU. R. Fölsch1 , S. Schreiber1
  • 1I. Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
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Publication Date:
08 April 2004 (online)

Prof. Dr. U. R. Fölsch

Prof. Dr. S. Schreiber

Der menschliche Alterungsprozess ist durch die jüngsten medizin-ökonomischen und gesundheitspolitischen Diskussionen verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Demographische Untersuchungen zeigen, dass die Alterserwartung in westlichen Industriegesellschaften im Schnitt um 3 Monate pro Geburtsjahrgang steigt. Dieses bedeutet einen deutlichen Anstieg der Lebenserwartung, der erhebliche Konsequenzen für die Bereitstellungsplanung für medizinische und soziale Leistungen hat. Hier haben sich in der Vergangenheit fatale Versäumnisse gezeigt, die zu Fehlkalkulationen in den Altersrückstellungen der entsprechenden Versicherungssysteme geführt haben.

Der Alterungsprozess an sich ist jedoch seit jeher von besonderer Faszination für den Menschen. Da Alterung unweigerlich zur Termination des biologischen Lebens führt, fokussiert sich ein erhebliches wissenschaftliches Interesse auf Mechanismen in der Steuerung dieses Vorgangs. Es finden sich deutliche genetisch/epidemiologische Hinweise auf eine genetische Determination des Lebensalters. Der Einfluss genetischer Faktoren ist sicherlich den exogenen Bereichen wie Umwelt, Ernährung und Lebensumstände unterlegen, kann jedoch klar belegt werden. Insbesondere weisen Tiermodelle darauf hin, dass Modifikationen im Energiestoffwechsel durchaus in der Lage sind, den Ablauf des Alterungsprozesses zu beeinflussen. Naturgemäß rufen solche Befunde großes Interesse hervor. Die wirkliche Bedeutung und das Verständnis des Alterungsprozesses liegen wahrscheinlich jedoch nicht in der Beeinflussung der Lebenserwartung, sondern in einem tiefergreifenden Verständnis der Physiologie von Reparaturvorgängen. Solche Erkenntnisse könnten z. B. in der Behandlung schwerst traumatisierter Patienten hilfreich sein.

Der alternde Mensch weist eine Reihe von Besonderheiten auf, die sich unmittelbar aus den Veränderungen der Organfunktionen ergeben. So kommt der Interaktion von Arzneimitteln im Alter eine besondere Bedeutung zu. Gerade der Einsatz multipler Wirksubstanzen resultiert in einem erheblichen Interaktionsrisiko. Gleichzeitig sind die Organsysteme des alternden Menschen oft auf eine geringere Belastbarkeit für toxische Nebenwirkungen eingestellt. Damit kommt dem Thema Arzneimittelinteraktion im Alter eine besondere Bedeutung zu.

Gleichzeitig verschiebt sich die Altersgrenze für medikamentöse und invasive Interaktionen im zunehmenden Alterungsprozess. Eine besondere Bedeutung kommt hier der adaptierten Indikationsstellung und der Durchführung von modifizierten Eingriffen und therapeutischen Schemata zu. Bei der Zunahme des Anteils älterer Patienten, aber auch der fortschreitenden medizinischen Entwicklung ist die Definition von geeigneten altersmedizinischen Strategien in den Fachgesellschaften ein dringend notwendiger Schritt. Ein Beispiel für diese Adaptation der diagnostischen und therapeutischen Algorithmen ist der Einsatz der Koloskopie: Während diese vor wenigen Jahren noch von einer Altersgrenze begleitet wurde, stellt sich heute heraus, dass auch Koloskopien bei über 90-jährigen Patienten durchaus einen diagnostischen und therapeutischen Nutzen haben können und vor allen Dingen auch als sichere Untersuchung durchgeführt werden können.

Viele im Alter auftretende degenerative, chronische oder maligne Erkrankungen haben ebenfalls eine genetische Komponente. Diese betrifft vor allen Dingen die Manifestation der großen Volkskrankheiten im jüngeren Alter (z. B. KHK bei 50-Jährigen) und wird im höheren Alter eher durch auslösende Faktoren im Bereich des Lebensstils überdeckt. Damit ergeben sich hier möglicherweise unterschiedliche Pathophysiologien der morphologisch ähnlichen Krankheitsbilder, die in der Zukunft eine adaptierte therapeutische Strategie erfordern.

Von zunehmender Bedeutung wird das Erreichen eines durch ausreichende körperliche und kognitive Funktion gekennzeichneten hohen Lebensalters sein. Gerade der zunehmende Anspruch an den Erhalt einer adäquaten sozialen Kompetenz stellt den Arzt vor neue Anforderungen. Die Entwicklung einer Altersmedizin, die über eine bloße Verwahrung von geriatrischen Patienten hinausgeht, ist daher eine vordringliche Notwendigkeit.

Wir haben daher ein wichtiges Anliegen der 110. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 2004 in diesem Schwerpunktheft der DMW aufgenommen und versucht, Ihnen einen ebenso interessanten wie anspruchsvollen Überblick über die verschiedenen Implikationen des Alterungsprozesses zu geben. Die praktische Relevanz wird durch Beiträge - wie die Pro- und Contra-Diskussion über die Dialysetherapie im Alter und das Mediquiz - ergänzt.

Wir hoffen, Sie finden diesen thematischen Fokus während der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 2004 und in diesem Heft ebenso stimulierend wie wir.

Prof. Dr. U. R. Fölsch

I. Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel

Schittenhelmstraße 12

24105 Kiel

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