Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(8): 397-398
DOI: 10.1055/s-2004-819901
Leserbriefe

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Aktuelle Fragen des Off-Label-Use - Erwiderung

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Publication Date:
11 February 2004 (online)

Die Anmerkungen von K. Waßermann und E. Erdmann bestätigen die hohe praktische Bedeutung der von uns dargestellten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19.3.2002 [1]. Wir teilen diese Bewertung und möchten die folgenden Anmerkungen eher als ergänzend denn als kontrovers verstanden wissen.

1. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass es in der Praxis wohl überwiegend die dritte, vom Bundessozialgericht aufgestellte Voraussetzung einer hinreichenden Aussicht auf einen Behandlungserfolg ist, über die gestritten wird. Dies liegt vor allem daran, dass sich die Ärzte nach unserer Erfahrung regelmäßig über den Zulassungsstatus des verordneten Medikaments bewusst sind und nur dann zu einem Off-label-Einsatz greifen, wenn die zugelassenen Alternativen ausgeschöpft sind. Ein solches Vorgehen lässt sich vergleichsweise leicht dokumentieren. Anders ist die Situation hinsichtlich der wissenschaftlich belegten Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Hier lässt sich zwar dokumentieren, aufgrund welcher Studien ein Einsatz des Medikaments erfolgt. Ob diese Studienergebnisse aber ausreichend sind, lässt sich nur wertend ermitteln.

Waßermann und Erdmann weisen auch darauf hin, dass in den meisten Fällen keine Evidenz aus Phase-III-Studien vorliegt, so dass es für die Zulässigkeit des Off-label-use auf einen Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken ankommt. Sie schlagen vor, die Beurteilung dieser Frage in jedem Einzelfall einem Gremium von ausgewiesenen Fachleuten zu überantworten und so Stellungnahmen des MDK überflüssig zu machen. Die Gründung solcher Gremien - etwa an Kliniken - könnte in der Tat dem einzelnen Arzt helfen, seine Entscheidung für einen Off-label-use fundierter zu treffen und begründen zu können. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass es auch ein solches Expertenvotum den Krankenkassen nicht nehmen kann, ein MDK-Gutachten einzuholen. Im Falle eines späteren Rechtsstreites wäre auch ein Gericht an die Beurteilung des Expertengremiums nicht gebunden. Allerdings käme dem Urteil eines kompetent besetzten Gremiums eine besondere Bedeutung zu. Festzuhalten ist aber, dass die Verantwortung für die einzelnen Verordnungen letztlich beim verordnenden Arzt verbleibt und auch verbleiben sollte. Die Probleme des quantitativ nachrangigen Off-label-use dürfen nicht zur Aushöhlung der therapeutischen Freiheit führen.

2. Zu danken ist Waßermann und Erdmann für die präzisierende Kritik an unserer im Fazit gewählten Formulierung zum fehlenden Genehmigungsrecht der Krankenkassen für Verordnungen. In der Tat soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass eine Krankenkasse einen Off-label-use verbieten könnte. Entscheidend ist, dass nicht sie, sondern der Vertragsarzt die Verantwortung für die Entscheidung zur Verordnung eines Off-label-use trägt.

Wir sind jedoch nicht der Meinung, dass ein Arzt vor jedem Off-label-use Kontakt zur Krankenkasse des Patienten aufnehmen muss. Eine rechtliche Verpflichtung besteht hierzu nicht, und eine faktische Notwendigkeit wegen drohender Regressverfahren besteht nur, wenn über die Rechtmäßigkeit des Off-label-use gestritten werden kann. Bei der Beurteilung des Risikos eines von der Krankenkasse eingeleiteten Regressverfahrens ist es zwar zweckmäßig, von einer rigiden Praxis der Krankenkassen auszugehen. Doch dürfte es in der Praxis zahlreiche Fälle eines etablierten Off-label-use geben, bei dem an dem Vorliegen der vom Bundessozialgericht ausgestellten Kriterien für einen zulässigen Off-label-use kein ernsthafter Zweifel bestehen kann. Hier würde eine Korrespondenz mit den Krankenkassen nur eine Verzögerung der notwendigen Behandlung bewirken.

Zutreffend weisen Waßermann und Erdmann darauf hin, dass in einem Anschreiben an die Krankenkasse nicht die Zustimmung zur geplanten Therapie begehrt wird. Entgegen Waßermann und Erdmann kann aber auch nicht die „Kostenübernahme“ beantragt werden, weil die Kosten von der Krankenkasse automatisch übernommen werden müssen, wenn der Arzt das Medikament ordnungsgemäß auf Muster 16 verordnet. Statt von einem Antrag auf Kostenübernahme sollte man daher von der Krankenkasse eine Stellungnahme zum beabsichtigten Off-label-use einfordern. Entscheidend ist letztlich nicht die Wortwahl, sondern die Veranlassung einer Reaktion der Krankenkasse.

3. Abschließend werfen Waßermann und Erdmann das Problem der Auswirkung eines Off-label-use auf das „Arzneimittelbudget“ des Vertragsarztes auf. Hier stellen sich in der Tat eine Fülle von Rechtsfragen, die wir in unserem Beitrag bewusst ausgespart hatten. Einige Anmerkungen:

Es gibt kein individuelles „Arzneimittelbudget“. Stattdessen gibt es Richtgrößen, die vertraglich vereinbarte Orientierungswerte für den durchschnittlichen Arzneimittelbedarf pro Fall sind. In der ärztlichen Umgangssprache wird dies zwar häufig als „Budget“ bezeichnet, doch darf diese Wortwahl nicht darüber täuschen, dass die Richtgrößen zwar fallbezogen festgelegt sind, doch letztlich nur Durchschnittswerte vorgeben. Eine Richtgröße von EUR 80,- bedeutet eben gerade nicht, dass den Patienten pro Quartal nur für jeweils EUR 80,- Arzneimittel verordnet werden dürfen. Zum anderen stellt die Summe der fallbezogenen Richtgrößen kein „Budget“ dar, weil bei einer Überschreitung dieses Richtgrößenvolumens nicht automatisch ein Regress erfolgt. Vielmehr kann eine Richtgrößenüberschreitung durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt werden. Ohne dies an dieser Stelle näher auszuführen, muss der Begriff der Praxisbesonderheit unter Richtgrößenbedingungen anders verstanden werden, als im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach Durchschnittswerten. Anders als früher wird der Arzt nicht mehr mit dem Verordnungsverhalten seiner Fachgruppe verglichen, sondern mit normativen Vorgaben, die weder das tatsächliche Verordnungsverhalten noch den tatsächlichen Verordnungsbedarf der Fachgruppe notwendig widerspiegeln. Eine Rechtfertigung von Richtgrößenüberschreitungen muss daher durch jede Verordnung möglich sein, die trotz ihrer dargelegten Wirtschaftlichkeit ein Einhalten der Richtgröße verhindert. Gerade innovative und teure Arzneiverordnungen im Off-label-Bereich erfüllen so häufig die Voraussetzungen einer Praxisbesonderheit.

Praktisch bedeutet dies, dass ein Arzt, der seinen Off-label-use wegen der Möglichkeit eines auf den Einzelfall gerichteten Regressantrages der Krankenkasse ohnehin ordnungsgemäß dokumentiert, diese Dokumentation im Regelfall auch für die Richtgrößenprüfungen verwenden sollte. Nach unserer umfangreichen Erfahrung aus der Vertretung von Ärzten in Wirtschaftlichkeitsprüfverfahren ist eine solche Argumentation meistens erfolgreich. Haben die Krankenkassen im Rahmen eines Richtgrößen-Prüfverfahrens Zweifel an der Zulässigkeit/Wirtschaftlichkeit eines Off-label-use, so zweifeln sie in der Regel nicht an der Qualifikation dieser Verordnung als Praxisbesonderheit und damit als Rechtfertigung im Richtgrößenprüfverfahren, sondern beantragen die Aussetzung des Richtgrößenprüfverfahrens, um den Off-label-use im Wege der Einzelfallprüfung zu analysieren.

Im Ergebnis kommt der Arzt um eine ordnungsgemäße Dokumentation des Vorliegens der Voraussetzungen für einen zulässigen Off-label-use nicht herum. Verfügt er jedoch über diese Dokumentation, so stellt der oftmals teure Off-label-use kein unlösbares Problem im Richtgrößenprüfverfahren dar.

Literatur

  • 1 Dierks C, Nitz G. Aktuelle Fragen des Off-Label-Use.  Dtsch Med Wochenschr. 2003;  1128 2138-2142

RA PD Dr. Dr. Ch. Dierks
RA Dr. Gerhard Nitz

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