Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72(2): 67-69
DOI: 10.1055/s-2003-812474
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diagnose und Prognose in der Psychiatrie

Diagnosis and Prognosis in PsychiatryJ.  Klosterkötter1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln
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Publication Date:
10 February 2004 (online)

Jede wirksame Therapie setzt eine treffsichere Diagnosestellung voraus, die uns vorab je nach dem erreichten Wissensstand über Ätiologie und Pathogenese, den zu erwartenden spontanen Verlauf und Ausgang sowie die Evidenz-basierten Behandlungsmöglichkeiten und deren Erfolgschancen bei der betreffenden Erkrankung orientiert. Kein Arzt würde, wenn er sich nicht gerade im unsicheren Feld der Alternativmedizin bewegt, diese elementare Forderung in Zweifel ziehen. Sie gilt zu Recht als eine Selbstverständlichkeit, die dementsprechend auch schon früh als grundlegendes Handlungsmuster im Medizinstudium vermittelt wird.

Natürlich sind viele Krankheiten nach wie vor hinsichtlich der genaueren molekularen Ätiologie und Pathogenese noch nicht voll durchschaut, so dass auch die möglichen Therapien noch nicht wirklich störungsspezifisch und kausal ausgerichtet sein können. In solchen Fällen sollten aber die Diagnosen doch zumindest eine valide und differenzielle Vorhersage dazu erlauben, wie sich der Krankheitsverlauf und sein Ausgang spontan oder unter einer der bereits in Betracht kommenden Behandlungen gestalten würden. Bespricht der Arzt heute beispielsweise mit dem Patienten die Diagnose einer bestimmten Malignomart, die er diagnostiziert und im Entwicklungsstadium genau festgelegt hat, kann er über die Ursachen und den durch sie in Gang gebrachten Krankheitsprozess oft noch keine vollständig abgesicherten Aussagen machen. Die Frage aber nach Lebenserwartung und Lebensqualität wird der Patient vergleichend für den Spontanverlauf und die verschiedenen verfügbaren noch nicht kausalen Therapien selbst schon im Internet beantwortet finden.

Wenn sich auch diese Informationen nicht aus dem jeweiligen Diagnosebegriff ableiten ließen, müsste er jedenfalls im medizinischen Kontext eigentlich als „unbrauchbar” eingestuft und folgerichtig aufgegeben werden. Dann machte es natürlich auch wenig Sinn, Haupt- und Nebendiagnosen mit einigen Zusatzkriterien für Fallgruppenbildungen zu benutzen und das Entgeltsystem im Krankenhaussektor auf Pauschalpreise für solche Diagnoses Related Groups - DRG - umzustellen. Denn nur, wenn die Diagnosen in dem dargestellten Sinne prognostisch valide sind, können sie den Ressourcenverbrauch adäquat abbilden und die Varianz der Behandlungskosten ausreichend erklären. Darum führt uns die in diesem Jahr in deutschen Krankenhäusern verbindlich gewordene Fallpauschalenimplementierung besonders gut vor Augen, wie eng Diagnose und Prognose im medizinischen Denken miteinander zusammenhängen.

Wie steht es diesbezüglich aber nun mit den Diagnosen in der Psychiatrie? Diese Frage haben Jäger u. Mitarb. mit ihrem Beitrag zur Klassifikation der funktionellen Psychosen in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift wieder einmal aufgegriffen [1] und anhand neuer Auswertungen von Daten aus der Münchner Katamnese-Studie [2] zu beantworten versucht. Ihre Analyse bezieht sich zwar nur auf den prognostischen Wert von fünf ICD-10-Diagnosegruppen, die der Schizophrenien, der wahnhaften Störungen, der akuten vorübergehenden psychotischen Störungen, der schizoaffektiven Störungen und der affektiven Störungen, aber es werden dabei auch grundsätzliche, den Entwicklungsprozess der psychiatrischen Klassifikation im Ganzen [3] betreffende Probleme diskutiert.

Als Kahlbaum und Kraepelin Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts diesen Prozess in Gang brachten, orientierten sie sich an den damaligen Fortschritten der somatischen Medizin und formulierten auch für die psychischen Störungen ein klinisch-nosologisches Einteilungsprogramm. An die Stelle der früheren rein psychopathologischen Unterscheidung bloßer Zustandsbilder, von denen es zwangsläufig zu viele Misch- und Übergangsformen gab, sollte eine kategoriale Einteilung nicht nur nach symptomatologischen Kriterien, sondern auch nach Verlauf und Ausgang, hirnpathologischen Korrelaten und Ursachen treten, wie sie beispielsweise für manche Infektionskrankheiten in dieser Zeit schon erreicht worden war. Kraepelin’s Grundanschauung, dass es sich nämlich bei den psychischen Störungen ebenfalls um Krankheiten im Sinne der Körpermedizin handelte und sie dementsprechend eines Tages auch als ätiopathogenetisch distinkte nosologische Einheiten von einander abgrenzbar wären, hat den gesamten nachfolgenden Klassifikationsprozess trotz seiner zahlreichen Revisionen und Modifikationen durchgehend geprägt. Das lässt sich ebensowohl für die traditionellen wie für die modernen psychiatrischen Klassifikationssysteme bis hin zu den derzeit geltenden operationalisierten und globalisierten Diagnosen in der ICD-10 und der vierten Version des Diagnostic and Statistical Manual - DSM-IV - aus den jeweiligen Begründungsgängen unschwer ersehen [3] [4] [5].

Dabei ist es interessant, dass schon Kraepelin sich damals einer in der modernen Diagnoseforschung [6] später immer wiederkehrenden Formulierung bediente und die von ihm größtenteils noch ohne spezielle Ursachen- und Pathogenesekenntnis vorgeschlagenen Einteilungskategorien nicht schon Diagnosen, sondern nur „brauchbare Begriffe” nannte. Brauchbar sollten sie insofern sein, als sich mit ihrer Hilfe und insbesondere mit der neu synthetisierten Kategorie der später Schizophrenie genannten „Dementia praecox” und dem in dichotomer Einteilung der funktionellen Psychosen hiervon abgehobenen „manisch-depressiven Irresein” Verlauf und Ausgang dieser Störungen schon deutlich besser als bisher vorhersagen ließen. Mit „Brauchbarkeit” war also auch in dieser Gründerzeit schon nichts anderes als die prognostische Wertigkeit des jeweiligen Diagnosebegriffs gemeint. Kraepelin’s Annahme einer ungünstigen Prognose für die Schizophrenien und einer günstigen für die affektiven Erkrankungen hat sich in der Folge so nachhaltig ausgewirkt, dass der Nachweis günstigerer Verläufe und Ausgänge etwa für die „zykloiden”, die „schizoaffektiven” oder die „schizophreniformen und reaktiven Psychosen” immer wieder an eine nosologische Sonderstellung dieser Störungen zwischen den beiden Polen der Dichotomie denken ließ. An diese klassifikatorische Vorgeschichte knüpfen Jäger u. Mitarb. mit ihrer Fragestellung an, welche Vorhersagekraft für den 15-jährigen Langzeitverlauf denn nun die modernen operationalisierten Nachfolgediagnosen nach ICD-10-Forschungskriterien besitzen.

Wenn auf der einen Seite nur 3 % der Patienten mit affektiven Störungen und auf der anderen Seite 57 % der Fälle mit Schizophrenien und 50 % der Patienten mit wahnhaften Störungen chronische Verläufe bieten, während die Fälle mit akuten vorübergehenden psychotischen Störungen und die mit schizoaffektiven Störungen diesbezüglich eine Mittelstellung einnehmen und prozentual dem affektiven Pol näher stehen, entspricht dies zumindest der Richtung nach den prognostischen Annahmen, die man traditionsgemäss mit diesen Diagnosen verbindet. Noch bemerkenswerter sind die Ergebnisse, die durch Anwendung eines logistischen Regressionsmodells erzielt werden konnten und auf eine erwartungsgemässe Vorhersage des 15jährigen Langzeitverlaufs durch die Eingangsdiagnosen hinsichtlich der Charakteristik „chronisch” versus „nicht chronisch” in immerhin 78 % der Fälle hinausliefen. Steht es also um die prognostische Wertigkeit zentraler psychiatrischer Diagnosen doch nicht so schlecht, wie uns dies eine Vielzahl katamnestischer Untersuchungen in der Vergangenheit immer wieder vor Augen führte?

Zumindest für die Querschnittsdiagnosen der Schizophrenien oder der wahnhaften Störungen nach ICD-10-Forschungskriterien wird man eine solche Schlussfolgerung nicht ohne weiteres ziehen können, weil immerhin in knapp der Hälfte dieser Fälle die Krankheit nicht chronisch verlief. Ob dauerhafte Funktionseinbussen mit sozialen Behinderungen entstehen oder die Symptomatik nur episodisch auftritt und immer wieder voll remittiert, macht für Akut- und Langzeittherapie sowie auch Rehabilitation einen erheblichen Unterschied aus. Hinzukommen bei psychisch Kranken ganz allgemein noch zahlreiche weitere Einflussfaktoren, die alle dazu führen, dass sich die Therapieverläufe trotz derselben Haupt- und Nebendiagnosen sehr verschiedenartig gestalten können. Dazu gehören beispielsweise das durch Stigmatisierungsbefürchtungen erschwerte Hilfesuchenverhalten und die mangelhafte Akzeptanz von psychiatrischen Krankheitskonzepten und Therapieangeboten. Auch aus diesen Gründen erklären psychiatrische Diagnosen einen zu geringen Anteil der Varianz des Ressourcenverbrauchs, um adäquate Bezugsgrößen für ein pauschalierendes Entgeltsystem darstellen zu können [7] [8]. Wäre ihre Vorhersagekraft für die Therapieverläufe mit der diesbezüglichen Validität somatischer Diagnosen vergleichbar, müssten wir heute nicht so sehr auf Sonderregelungen für die stationäre Versorgung psychisch Kranker bestehen.

Jäger u. Mitarb. haben nun anstelle der ICD-10-Diagnosen alternativ auch verschiedene dimensional gefasste psychopathologische und demographische Merkmale als unabhängige Variablen in ihr logistisches Regressionsmodell eingegeben. Die Vorstellung, dass eine solche dimensionale Betrachtungsweise den psychischen Störungen diagnostisch besser gerecht werden könnte als ihre Einteilung in einander ausschließende Kategorien, reicht mit ihren Anfängen ebenfalls schon sehr weit in die Geschichte der psychiatrischen Klassifikation zurück. Schon in den großen kritischen Kontroversen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich um Kraepelins Grundanschauung drehten, wurde die Anwendbarkeit des klinisch-nosologischen Einteilungsprogramms in der Psychiatrie von verschiedenen Seiten mit guten Gründen in Zweifel gezogen. Diese Kritik und die hiervon ausgehenden Anregungen zu dimensionalen Ordnungsversuchen hat sich in dem gesamten Prozess der psychiatrischen Klassifikation bis heute immer wieder zu Wort gemeldet [3] und ist gerade in der augenblicklichen Diskussion beinahe genauso präsent wie die gegenteilige Forderung, die kategoriale Diagnostik durch eine stärkere Berücksichtigung neurobiologischer Kriterien zu verbessern.

Wenn allerdings die hierdurch ermöglichte Verlaufsvorhersage, wie es nach den Ergebnissen von Jäger u. Mitarb. aussieht, gar nicht wesentlicher valider wäre, dann dürften solche oder andere dimensionale Ansätze wohl auch in der weiteren Zukunft keine größere Bedeutung für die psychiatrische Diagnostik gewinnen. Manche andere Studienergebnisse scheinen zwar für eine prinzipielle Überlegenheit der dimensionalen gegenüber kategorialen Modellen zu sprechen. Die psychiatrische Diagnoseforschung ist aber bisher noch niemals ernsthaft und in voller Konsequenz von dem traditionellen Hauptweg des medizinisch-klinischen Einteilungsprogramms abgewichen. Die modernen Operationalisierungen wollen sicherstellen, dass wir die Diagnosekriterien über alle Institutionen und Länder hinweg theoriefrei und vorurteilslos in identischer und reproduzierbarer Weise anwenden können. Wer aus dem Blickwinkel einzelner Traditionen den damit zweifellos einhergehenden Reduktionismus beklagenswert findet, sollte auf der anderen Seite auch bedenken, dass solche Reliabilitätsverbesserungen nur dem einen Ziel der immer homogeneren Fallgruppenbildung für die medizinische Validierung dienen. Ob sich die auch heute noch bestenfalls nur als „brauchbare” Begriffe einzustufenden Kategorien im Zuge der auch nach ICD-10 und DSM-IV weiter zu erwartenden Revisionen immer „brauchbarer” gestalten und schließlich in ätiopathogenetisch, therapeutisch und prognostisch voll aussagekräftige Diagnosen überführen lassen, bleibt abzuwarten. Man kann dies für die Psychiatrie mit guten Gründen bezweifeln und sollte durchaus dimensionale Ansätze alternativ oder ergänzend ebensowohl für die Diagnose - wie für die Versorgungsforschung erproben. Gerade in einer Zeit, in der Molekularbiologie, Genetik und Hirnforschung erhebliche Fortschritte versprechen, wird jedoch sicherlich Kraepelin’s Grundanschauung weiterhin dominieren und den Prozess der psychiatrischen Klassifikation auch in die Zukunft hinein bestimmen.

Literatur

  • 1 Jäger M, Bottlender R, Strauss A, Möller H J. Klassifikation der funktionellen Psychosen: Die Bedeutung der ICD-10-Diagnosen (Forschungskriterien) für die Vorhersage des Langzeitverlaufes.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 1-9
  • 2 Möller H J, Bottlender R, Gross A, Hoff P, Wittmann J, Wegner U, Strauss A. The Kraepelinian dichotomy: preliminary results of a 15-year folow-up study on functional psychoses: focus on negative symptoms.  Schizophr Res. 2002;  56 87-94
  • 3 Klosterkötter J. Psychiatrische Klassifikation. Grundidee und bisherige Entwicklung eines unabgeschlossenen Prozesses.  Fortschr Neurol Psychiatr. 1999;  67 558-573
  • 4 Peters U H. Für und Wider ICD-10 Kapitel V.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2003;  71 115-117
  • 5 Freyberger H J. Warum brauchen wir die operationalisierte Diagnostik psychischer Störungen?.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2003;  71 478-479
  • 6 Kendell R E. Die Diagnose in der Psychiatrie. Stuttgart: Enke 1978
  • 7 Klosterkötter J. DRG’s und Psych-PV.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2003;  71 232-233
  • 8 Andreas S, Dirmaier J, Koch U, Schulz H. DRG-Systeme in der Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen: Zur Konzeption eines Klassifikationssystems für Fallgruppen.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2003;  71 234-242

Prof. Dr. med. Joachim Klosterkötter

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln

Joseph-Stelzmann-Straße 9

50931 Köln

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